Zeugnisse raus!

Fenster putzen und Schwimmbäder fegen wegen der Planerfüllung: Wie man sich als Schüler an der Produktionsfront bewährte. Eine Erinnerung

„Wieso durcharbeiten? Habt ihr dit jehört, der Bengel will keene Pause machen?!“

Welche meiner Zeugnisse sollte ich den Arbeitgebern denn nun zeigen, wenn ich mich irgendwo bewarb? Die mit den PA-Zensuren, also die benotete „Produktive Arbeit“ während der Polytechnischen Oberschule? Viele Arbeitgeber hätten hinter dieser Therapiebeschäftigung Handarbeit wie Schraubensortieren vermutet.

Und so war es im siebten und achten Schuljahr auch. Ich musste in einer Werkhalle hinter dem Gefängnis mit einem unbrauchbaren Zauberstab feilen. Der Ausschuss kam zurück in die Materialkiste, für die Schüler am nächsten Tag. Und die gelungenen Messe-Erzeugnisse kamen in die Schrottkiste.

Wir arbeiteten alle zwei Wochen einen halben Tag lang. Mit der Jugendweihe wurde die Kinderarbeit legalisiert. Unser PA-Leiter war ein verknöcherter Blau-Mann aus diesem Betrieb. Billiger Fusel schien sein alltäglicher Trost. Klarer Juwel, blauer Würger, Blindpesenbeschleuniger. Als Schüler war ich mir zumindest darüber im Klaren, das ich später nicht in einer Werkhalle arbeiten wollte. In der neunten oder zehnten Klasse bastelten wir in einem Betrieb Schalldämpferkulissen für die Klubgaststätten der Republik. Es hieß immer: Isoliermaterial in die Blechkästen, Deckel rüber, Schraubbohrer ansetzen und flott-flott.

An der Produktionsfront war Pazifismus völlig verpönt. Ich stand mit einer ausgewachsenen Produktionskraft am Band. Inzwischen war ich von meinen Mitschülern isoliert. Was sollten wir uns den ganzen langen Arbeitstag über erzählen? Als 15-Jähriger spielte ich ja noch mit drei Groschen Tischfußball. Ich fragte das Mütterchen nach ihrem Dienstgrad: „Und wie heißt Ihr Beruf?“ Sie antwortete: „Ick bin nüscht, wir sind hier alle nüscht.“

In den leeren Augen der Trümmertochter fragte ich nach Feierabend. Zehn Schalldämpferkulissen waren das Soll. Aus Langeweile rechtfertigte ich das mir entgegengebrachte Vertrauen. Gegen Mittag hörte ich ganz deutlich die Werkssirene. „Feierabend!“ Arbeit während der Schulzeit war nur die halbe bittere Pille. Vor den Ferien kam mein Vater nicht nur auf die Idee, das ich mir in den Ferien etwas dazuverdienen könnte, er bestand sogar darauf, dass ich arbeiten gehen sollte.

In den dreiwöchigen Winterferien war eine Woche Arbeit erlaubt, in den achtwöchigen Sommerferien drei. Zum Auftakt war ich eine Woche im schweinekalten Februar als Fensterputzer beschäftigt. Täglich von 8 bis 16 Uhr im Sportforum Hohenschönhausen. Ich glaube, es war die Zeit, in der die Olympioniken der Republik im Sportforum eingekleidet wurden. Alle bekamen einen blau-grauen Einheitslook. Wie in den Betrieben. „Moskau 80“ hieß die Devise.

Ich war immer mit einer alten Fensterputzerseele zwischen Handballhalle und Wellblechpalast unterwegs. Total langweilig. Wenn es zu kalt war, ließ er mich auch mal alleine draußen arbeiten. „Hier haste den Schlüssel von der Baracke da drüben, aber nich’ verlieren, hörste!“

Warum sollte ich den Schlüssel verlieren? Es war wie in einem tschechischen Kinderfilm. Der Direktor gab Schulfrei. „Liebe Schüler, die Heizung ist ausgefallen, geht nach Hause! Wenn ihr das Gebäude verlasst, so leckt bitte nicht das Treppengeländer mit der Zunge an! Sonst bleibt ihr kleben!“

Alleine wären die Kinder wohl nicht darauf gekommen, aber nun leckten und klebten eben drei Kinder am Treppengeländer. Lange Rede, kurzer Sinn. Ich habe den Schlüssel verloren. Der Alte regte sich auf: „Warum haste den Schlüssel verloren?“

„Weil ick keen Band um den Hals hatte, Mann, wat weeß ick!“

„Bengel, fängste jetze an zu heulen oder wat?“

„Mach ich doch ja nich!“

„Mensch, die Baracke wird sowieso bald abjerissen, und nu is der Schlüssel eben als Erstet weg.“

„Und wofür sollt ick überhaubt die Fenster putzen?“

„Wegen der Planerfüllung! Komm, wir jehn ma wat trinken!“

Nach dem Mittagessen war ein Nickerchen angesagt, bis zum Feierabend gegen drei Uhr. Unser Aufenthaltsraum befand sich in einem Flachbau, in dem sich die Maurer ebenfalls einquartiert hatten. Viele Kollegen hatten sich auf den Bänken langgemacht oder die Köpfe auf die Tische gelegt.

Ich war überhaupt nicht müde und wollte nur nach Hause. Also fragte ich den alten Fensterputzer im Vertrauen: „Wollen wir durcharbeiten, dann könn’ wir eher gehen?“

Er hatte nur mit einem Ohr zugehört. „Wieso durcharbeiten? Habt ihr dit jehört, der Bengel will einfach keene Pause machen?!“

Die schlummernden Maurer erhoben ihre Köpfe: „Spinnst du? Da warn wir früher aber anders drauf.“ Wenige Tage später wässerte ich mit dem Scheibenwischer die großen Fenster vom Restaurant ein. Ölspuren machten sich bemerkbar, sahen wie olympische Ringe aus. Die Kugelstoßerinnen mit den Fußballerstimmen murrten im Vorübergehen an mir herum. Die alte Fensterputzerseele musste für mich nacharbeiten. Am Freitag gab es 120 Mark. Schon damals reichte mir eine Woche im Jahr.

Inzwischen war ich aus meinen ersten Erfahrung klüger geworden. Vor den letzten Schulferien besorgte ich mir im Sportforum eine Arbeit in der Schwimmhalle. Dort war eine Frau für mich und zwei andere pubertierende Bengel zuständig. Wir hatten Ruhe vor ihr und sie vor uns.

Am ersten Tag sagte sie nur: „Ja, rennt mal hier ’n bisschen mit ’m Besen rum, dann macht ma’ Mittach, dann jeht ma’ baden, und dann haut ab!“ Wir bekamen das Schwimmen bezahlt.

Leider habe ich trotzdem meinen Einstieg in die sportliche Karriere verträumt. Mir blieb nur das Berufsleben. Erst die hohen Zensuren, und dann noch das niedrige Geld. Und welche Zeugnisse sollte ich bei Bewerbungen vorlegen?

ANDREAS GLAESER