Olympiasiegerin wider Erwarten

Die 24-jährige Andrea Henkel aus Thüringen gewinnt Gold im Biathlon und überrascht damit nicht nur sich selbst

SOLDIER HOLLOW taz ■ Im Sport ist das ja manchmal so: Da startet eine als ziemliche Außenseiterin in einen Wettkampf, und am Ende kommt sie als strahlende Siegerin heraus. Andrea Henkel ist dafür ein prima Beispiel. Als sich die 24-Jährige aus Großbreitenbach in Thüringen am frühen Montagmorgen aus dem Bett und Richtung Wettkampfstätte in Soldier Hollow quält, verschwendet sie, so jedenfalls hat sie es hinterher selbst erzählt, „an den Sieg nicht den geringsten Gedanken“. Ein paar Stunden später baumelt Gold um ihren Hals und Andrea Henkel ist Olympiasiegerin im Biathlon.

Manchmal passieren solche Dinge – und ein bisschen muten sie an wie Märchen, moderne Märchen natürlich, und die Menschen, die sie erleben, können auch nur noch staunen – am meisten über sich selbst. „Ich kann’s noch gar nicht richtig fassen“, hat Andrea Henkel deshalb nach dem Rennen gesagt, was schrecklich trivial klingt, letzten Endes den Nagel aber ziemlich genau auf den Kopf trifft. „Damit habe ich nie und nimmer gerechnet“, sagt entsprechend Uwe Müßiggang, der Bundestrainer. „Das hätte ich ihr nicht zugetraut“, gibt Liv Grete Poiree, die Silbermedaillengewinnerin aus Norwegen, zu. „Mit ihr habe ich nicht gerechnet“, ergänzt schließlich Magdalena Forsberg, die große Schwedin, für die am Ende nur Bronze blieb. Und zu Hause in Thüringen hatten die Eltern noch nicht einmal den Sekt kalt gestellt. „Wir haben doch nie mit einem solchen Erfolg gerechnet“, entschuldigt sich die Mutter.

Nun ist es nicht so, dass Tochter Andrea nicht schon den einen oder anderen Erfolg in Loipe und Schießstand zustande gebracht hätte, ganz im Gegenteil. Vizeweltmeisterin war sie mit der Staffel, drei Mal Siegerin zudem in einem Weltcuprennen. Bei Olympia galten aber doch andere als Favoritinnen, vorneweg Poiree und Forsberg. Um Gold zu gewinnen, so hieß es, sei Henkel, vor ihrer Biathlonkarriere Ski-Langläuferin, vor allem in der Loipe zu langsam, nur wenn sie beim Schießen fehlerlos bliebe, könne sie in die Nähe der Medaillen kommen – vielleicht. Dann schoss die Sportsoldatin, die in der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Oberhof unter profesionellen Bedigungen trainieren kann, schon bei der zweiten der vier Fünferserien eine Fahrkarte – und lief dafür wie entfesselt.

Der Rest ist deutsche Olympiageschichte, so viel lässt sich heute schon sagen, weil es vor Andrea Henkel erst eine deutsche Einzel-Olympiasiegerin im Biathlon gab: Antje Misersky gewann vor auf den Tag genau zehn Jahren. Ob sie sich der Größe ihrer Tat bewusst sei, wurde Andrea Henkel deshalb von einem Fernsehreporter gefragt, worauf die 24-Jährige nur etwas irritiert dreingeschaut und schließlich geantwortet hat: „Ach, jetzt wo Sie es sagen.“ Das wirkte etwas unbeholfen, fast so, als sei es ihr ein bisschen peinlich, über sich und ihren großen Erfolg reden zu müssen. Es wirkte aber auch sympathisch und herrlich authentisch, aalglatt gebügelte und medienkonforme Profisportler gibt es ja schon genug.

Als alles zu Ende war, trugen Trainer und Teamkameradinnen die frisch gebackene Olympiasiegerin auf den Schultern aus dem Stadion. „Ich wollte das nicht, doch es war einmalig schön“, erzählte Andrea Henkel. Zumal sie ja nie im Leben damit gerechnet hatte, dass es so kommen würde. FRANK KETTERER