LUDWIG STIEGLERS KRITIK OFFENBART EINE ANDERE POLITISCHE KULTUR
: Historische Lücke bei CDU und FDP

CDU und FDP sind dazu verpflichtet, heute den neonazistischen Anfängen zu wehren und dem Verbotsantrag der NPD keine Steine in den Weg zu legen, findet der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler. Denn sie seien schließlich Nachfolgeorganisationen des Zentrums wie der Deutschen Volkspartei, die durch ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz 1933 den Weg frei gemacht hätten zu Hitlers endgültiger Machtergreifung. Donnerwetter. Man kann Stieglers Attacke als gut gemeinten, aber schlecht geratenen Entlastungsangriff zu Gunsten Otto Schilys interpretieren und sich mit Kurt Tucholsky darüber amüsieren, dass jetzt „halb Deutschland auf dem Sofa sitzt und übel nimmt“. Aber die heftigen Reaktionen seitens der „bürgerlichen Parteien“ legen einen anderen Schluss nahe: Stiegler hat einen empfindlichen Nerv getroffen.

Christdemokraten wie Liberale betrachten nämlich ihre Parteien als Neugründungen, als Zusammenschlüsse, die die Lehren nicht nur aus der NS-Zeit, sondern auch aus Irrnis und Wirrnis der Weimarer Republik gezogen haben. Die liberalen wie die christlichen Parteien Weimars erscheinen in dieser Betrachtungsweise nur schemenhaft als Gespenster einer untergegangenen Epoche. Im Selbstverständnis von CDU und FDP beginnt ihre Geschichte erst mit der Gründerphase der Bundesrepublik. Von diesem Geburtsmythos zehrte auch der liberale Demokrat Theodor Heuss. Dass er in der NS-Zeit dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte, wurde in den ersten Jahren der Bonner Republik mit mildem Schweigen übergangen.

Gibt es also tatsächlich ein historisches Band zwischen den heutigen allgemein christlichen beziehungsweise neoliberal orientierten Parteien und ihren Weimarer Vorläufern? Kann die damalige Zustimmung von Zentrum, von Rechts- und Resten des Linksliberalismus zu Hitler überhaupt in die Waagschale geworfen werden? Ja, nur anders, als Ludwig Stiegler es tat. Denn das Ermächtigungsgesetz von 1933 kann als Symptom eines generellen Bruchs des politisch organisierten Bürgertums mit den Grundlagen der Demokratie gelesen werden. Die Zustimmung vollendete nicht weniger als die Abwendung von Weimar. Schließlich war auch eine Partei wie das katholische Zentrum unter der Führung Heinrich Brünings und des Prälaten Kaas auf dem Weg zum autoritären Führerstaat, zur nationalen Sammlungsbewegung, ja zur Abkehr vom Parteiensystem und der verhassten Massendemokratie.

Über diese schiefe Ebene wird man bei den heutigen Christdemokraten ebenso wenig lesen wie bei der FDP über den Massenzulauf aus den Reihen der Rechtsliberalen zur NSDAP. Man müsste es aber. Natürlich unterscheidet sich die „Bürgerlichkeit“ des Zentrums und der Deutschen Volkspartei von der „Bürgerlichkeit“, die CDU und FDP heute als Kampfbegriff gegenüber Rot-Grün in Anspruch nehmen. Aber was bedeutet dieses positive Selbstverständnis von „bürgerlich“? Ist es tatsächlich frei von der Sehnsucht nach Autorität, nach Paternalismus, nach dem gesicherten Wertekosmos, ist es frei von Fremdenfeindlichkeit, vom Vorrang des nationalen Interesses? Besteht wirklich keine Verbindung zwischen der Bürgerlichkeit eines Friedrich Merz und eines Heinrich Brüning? Gut, Bonn ist nicht Weimar. Aber dieser kluge Buchtitel ist keine Entschuldigung für Geschichtsblindheit und Lernverweigerung.

Die Parteien der Linken sind zu ihrer Geschichte verdammt. Nicht nur weil sie am Gründungsmythos der Jahre nach 1945 nicht teilhaben wollten und konnten. Sondern weil sie den Kampf der vergangenen Generationen um Gerechtigkeit und Gleichheit nicht einfach von sich abtun können, solange sie am Anspruch, Programmpartei zu sein, festhalten. Sie schleppen die Last von 125 Jahren Hoffnungen und Enttäuschungen mit sich herum. Sie sprechen noch die Ahnen mit ihren Vornamen an. August, Rosa, Willy. Unter gänzlich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen schmerzen heute noch die einstigen Niederlagen, und es wird gegrübelt, ob es andere historische Möglichkeiten gegeben hätte. Auch Rot-Rot in Berlin wird sich diesem Zusammenhang nicht entwinden können, soll es mehr als eine ganz pragmatisch-geschichtslose Veranstaltung sein. Aus diese Sicht ist Ludwig Stieglers historische Attacke nicht nur ein taktisches Manöver, sondern Ausdruck einer anderen politischen Kultur. CHRISTIAN SEMLER