Nacktheit und Charme

Als der Kapitalismus noch Feinde hatte: In den „European Sixties“-Filmen äußerte sich der Einklang von Politik und Ästhetik als Haltung. Was aber blieb? Das Design von Brillen, Möbeln und Frisuren

von MANFRED HERMES

Die Filme der 60er-Jahre brachten in einem Modernisierungsschub völlig neue Handlungen, Bilder, Töne und Darsteller hervor. Monica Vittis Gang durch eine modernistische Vorstadtödnis am Anfang von Antonionis „L’Eclisse“ (1962) kann man als Prototyp einer neorealistischen Sequenz betrachten: Vitti war hier nicht nur auf besonders attraktive Weise schlecht gelaunt. In der liebevollen Hinwendung der Kamera zu ihrem Gang formulierte sich auch der Wunsch nach anderen Verhältnissen.

Im besten Fall schlug sich diese Haltung in Bildern von kristalliner Klarheit nieder, die ihrerseits zum Rückgrat eines Kinos der zersetzten oder schwach verbundenen Narrationen, der surrealistischen Spiele wurde. Das Leben einfangen, so lautete die Forderung einer reformierten, ethisch fundierten Bürgerlichkeit, die sich wie in Bo Widerbergs „Kärlek 65“ („Roulette der Liebe“, 1964) auch im Beibehalten der Darsteller- als Rollennamen zeigt. Allerdings standen dieser Position auch andere gegenüber: In „Tobby“ (1961) von Hansjürgen Pohland, in einem fast unspezifischen Nachkriegsberlin angesiedelt, wird der Jazz zum Organisationsprinzip. Auch hier fragt sich ein real existierender Musiker, Tobias Fischelscher, ob er arm, aber sich treu bleiben, oder sich für viel Geld vermarkten soll.

Der Unterschied zu Filmen, die unter Bedingungen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung entstanden, ist oft verschwindend gering. In „Eltávozott nap“ („Das Mädchen“, 1968) von Márta Mészáros macht sich eine junge Frau auf die halbherzige Suche nach ihren Eltern, die sie nicht kennt. Gemeinsamkeit entsteht durch Ähnlichkeiten in den Bildern, Stimmungen und denselben Haltungen von Coolness der Figuren, ja selbst auf der Ebene der Motive: große Maschinen als Arbeitsplatz, Vorortzüge und triste Wochenendclubs sind auch hier Austauschorte einer eindeutigen Optionslosigkeit.

Zelimir Zilniks „Rani Radovi“ („Frühe Werke“, 1969) zeigt sich schon stärker an einer Kritik der Verhältnisse und der uneingelösten Versprechen des Sozialismus ausgerichtet („wir essen schlecht“, „wir sind gegen die sozialistische Verbürgerlichung“). In bohemistischem Tatendrang testen drei Männer und eine Frau Lebensformen durch und landen beim verspielten Versuch, die sozialistische Forderung nach einer Durchdringung der Milieus in der Fabrikarbeit zu erfüllen. Ihr Scheitern ist programmiert, und das Suhlen im Matsch bleibt als einzig mögliche Gesellschaftsmetapher.

Der grässlichste, aber immer noch gern zitierte Nouvelle-Vague-Spruch ist der von den schönen Frauen, die schöne Dinge tun, und das sei dann Film. Tatsächlich ist – meist weibliche – Nacktheit ein weit verbreitetes Symbol für eine allgemein zu verstehende persönliche Befreiung. Allerdings konnte dieses „Schöne Dinge tun“ vieles sein, zum Beispiel schauen oder herumliegen. Nie vorher konnte man Gesicher und Körper im Kino so lange betrachten oder beim Betrachten betrachten – und das macht nicht nur deshalb Spaß, weil die Darsteller in diesen Filmen oft unglaublich gut aussehen. Dieses Betrachten, vielleicht ist es schon die Rückseite einer aufkeimenden narzisstischen Typologie, hält aber vor allem auch alle möglichen Erotismen in der Schwebe.

Das ist jedenfalls mehr, als man von der faktischen Ebene behaupten kann. In den „European 60s“ war man noch so intensiv mit der Renovierung heterosexueller Paarbeziehungen beschäftigt, dass etwa Homosexualität leicht unter dem Teppich bleiben konnte. Sie kommt deshalb höchstens in Form eigenartig verdruckster Aufklärungs- und Toleranzedikte vor, wie in Vilgot Sjömans düsterer „491“ (1963), Tony Richardsons „A Taste of Honey“ („Bitterer Honig“, 1961) oder in der Homoerotik des großartigen Banlieue-Films „Les coeurs verts“ (1966) von Edouard Luntz (dem man auch das Motiv für den Retro-Jingle entnommen hat, der pikanterweise die Begleitmusik zu einer Vergewaltigungsszene ist). Selbst „Performance“ (1969) kommt, trotz interessanter Innuendos, lieber in Manifestform daher.

Trotz Rosa von Praunheims temperamentvoller „Schwestern der Revolution“ (1969) bildet „Sexualität“ eine der Bruchstellen, an der auch die Europäisierung der 60er-Jahre als Behauptung fragwürdig wird. Zwar hatten die europäischen Filme international ein hohes Prestige, nicht zuletzt auch wegen ihrer sexuellen Freizügigkeiten. Dafür gingen die Filme von Andy Warhol, Jack Smith und Kenneth Anger bekanntlich wesentlich weiter. Wenn überhaupt, dann macht der kontinentale Fokus erst durch die Filme aus Osteuropa Sinn, wenn die Behauptung systemübergreifender ästhetischer Gemeinsamkeiten auch etwas unhistorisch wirkt.

Auf eine Retrospektive von 60er-Jahre-Filmen lassen sich aber nicht nur regionale Spezifika projizieren, sondern alles Mögliche: Ästhetisierende Schwärmerei wird ebenso gut bedient wie politische Pathosformeln oder Sehnsüchte nach Authentizität, Militanz und ödipalen Auf- oder Einbrüchen. Das wird noch dadurch vereinfacht, dass diese Ära diverse Retrozyklen durchlaufen hat und sich die Filme daher auch als Kataloge von Gebrauchsgütern und Haltungen betrachten lassen, was wegen oft ähnlich aussehender Brillen, Möbel und Frisuren die Distanz verringert. So kommen einige auch deutsche Produktionen filmstilistisch jetzt wieder zu vergleichbaren Ergebnissen, aktuell etwa Ulrich Köhlers „Bungalow“. Ein Unterschied ist aber entscheidend: In „Bungalow“ wird auf einem Grillabend über das, was auch ein Bombenattentat hätte sein können, gewitzelt: Der Kapitalismus habe keine natürlichen Feinde mehr. In den 60ern dagegen war noch jeder ein Feind des Kapitalismus. Jedenfalls jeder, der in einem dieser Retrofilme saß.