peter ahrens über Provinz
: Der absolute Normalsinn

Wenn es kalt wird in Ostfriesland, werfen Männer Kugeln ins Feld, schwenken Fahnen, und sie brauchen Eierbecher

Als in meinem Fernsehapparat Waldemar Hartmann zum zehnten Male innerhalb von 24 Stunden sein „Welcome to America!“ trompetete und ihm vor Ranschmeißerei dabei beinahe die Hose platzte, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An dieselbe selbstgefällige Miene, mit der mein alter Gemeindepastor dereinst bei einem seiner Hausbesuche meine Mutter beiseite zog, mit verschwörerischem Gestus seine Aktentasche öffnete und ein Bravo-Heft daraus hervorzog. Es zeigte Agnetha oder Annafrid von Abba auf dem Titelbild, und ihr oberster Hemdknopf war geöffnet. Wichtig bedeutete der Pastor meiner Mutter, dass er soeben alle Kioske seines Bezirkes abgelaufen sei und sämtliche Bravo-Ausgaben einkassiert habe, um die Kinder – dabei schaute er demonstrativ auf mich – vor Verderbnis, Fäulnis, kurz der Hölle respektive der Bravo-Fotostory zu bewahren. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Aber hier soll es ja nicht um Paderborn gehen, sondern um Provinz (kurzes, erstauntes Heben der Augenbraue. Stutzen, dann erleichtertes Lächeln, ach so, Ironie). Demnach geht es folgerichtig um Ostfriesland, und es geht um die Winterspiele, die im Vergleich zu den Sommerolympiaden doch reichlich hinterwäldlerisch daherkommen – Besserwisser und Günther-Jauch-Gucker mögen an dieser Stelle gerne anmerken, dass die Olympiade der Zeitraum zwischen zwei Olympischen Spielen ist. Geschenkt. Biathlon, Rodeln-Doppelsitzer und dazu der latent stets vorhandene Hintergrundsound entweder aus Oberbayern oder dem Thüringer Wald – da wende ich mich doch lieber dem Original zu. Und das heißt Klootschießen.

Wenn schon Wintersport, wenn schon Hintergrundsound aus den Karpaten dieser Republik, dann bitte richtig.

Folgende Szenerie: Es ist kalt, also wirklich kalt, es ist draußen, also wirklich draußen, kein Schnickschnack mit ausfahrbarem Dach, das sofort zum Einsatz kommt, falls mal Feuchtes die Wangen der Teilnehmer streifen sollte, und ganz viele rotgesichtige Männer mit Eierbechern um den Hals reden in einer fremden Sprache aufeinander ein. Das Hinweisschild weist den Ort der Handlung als Schweinsdorf/Landkreis Wittmund aus. Zu den Eierbechern kommen wir später.

Die alten rotgesichtigen Männer entrollen alte Fahnen, die jungen rotgesichtigen Männer ziehen Ballonseide an. Das Spiel beginnt. Der Sinn des Sports: Die jungen Männer laufen über einen auf einem Feld ausgerollten roten Teppich auf eine kleine Rampe zu. Wenn sie die erreichen, schreien sie, springen sie und werfen dabei eine kleine, mit Holz ummantelte Kugel, den Kloot, so weit es geht. Die alten Männer stehen hundert Meter entfernt, schwenken ihre Fahnen, um den Werfern die optimale Richtung zu weisen, rufen dabei: „Lüch ut und fleu herut“, was immer das heißen mag, und das ist es dann auch schon. Wo die Kugel liegen bleibt, wird die Rampe wieder aufgebaut, die jungen Rotgesichter nehmen wieder Anlauf, und so geht das Kilometer weiter über die Felder. Das dauert den ganzen Tag, am Ende sind alle im Klubheim und selig betrunken.

Das ist nicht gerade Snowboard in der Halfpipe, die Rotgesichter haben auch keine pinkfarbenen Sonnenbrillen, und nirgendwo spielt DJ Ötzi. Keiner sagt, dass er das den absoluten Wahnsinn findet. Dafür wird nach jedem Wurf der Eierbecher gezückt und klarer friesischer Kruiden nachgeschenkt. Ein Unwissender aus der Stadt – behaupten wir mal, das sei ich gewesen – wurde mal zum Klootschießen eingeladen und hatte, weil er gebeten wurde, einen Eierbecher mitzubringen, einen Ikea-Messingeierbecher in spiralförmigem Design dabei. Da haben die Ostfriesen gelacht.

In meinem Fernsehapparat sitzt gerade ein alter Mann im Publikum, schaut den Eisschnellläuferinnen zu und schwenkt ein schwarz-rot-senffarbenes Fähnchen. Der Mann sieht unglücklich aus, aber der Kommentator in meinem Fernsehapparat sagt, dass auch der Bundesinnenminister offenbar ein großer Fan von Annie Friesinger ist. Apropos Friesinger: Manchmal fliegt der Kloot auch den alten Männern im Publikum an den Kopf, und dann haben alle ihren Spaß. Ganz selten sollen Leute auch schon mal tot umgefallen sein, berichten die Altvordern, aber das wurde dann unter Verluste abgebucht, das regelten die Familien damals irgendwie untereinander.

Heute ginge das nicht mehr. Da würde ein Kommissar Wallander kommen und so lange wortlos und schlecht gelaunt in seinen Gummistiefeln durch den ostfriesischen Matsch stapfen und seine Magengeschwüre polieren, bis der Werfer als der Täter entlarvt und gefasst ist und der dann glücklich Selbstmord begehen darf. Es besteht eine reelle Chance, dass Klootschießen nie olympisch wird. „Welcome to Schweinsdorf“ klingt einfach nicht so gut.

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