hundert jahre u-bahn
: Fahrt alle Taxi!

Hundert Jahre Berliner U-Bahn: Ein in Stein, Zement und Metall mächtig und schicksalsträchtig gemeißeltes und gehauenes Denkmal einer längst untergegangenen Epoche! Als die U-Bahn erfunden und mit Stadtbahn, Straßenbahn und Bus zum Rückgrat des öffentlichen Personenverkehrs wurde, existierten noch ganz andere Verkehrsformen. Es war das Zeitalter der Massenproduktion. Die U-Bahn war ein Transportmittel für den Massenverkehr, dafür konzipiert, große Mengen von Menschen morgens zur Arbeit, abends wieder zurück und am Wochenende zur Landpartie zu fahren.

Dicht gedrängt standen die Beförderten und waren froh, überhaupt große Entfernungen in kurzer Zeit überwinden zu können. Alternativen gab es nicht, Autos und Motorräder waren den Reichen und Schönen vorbehalten. Für die Massengesellschaft war die U-Bahn leistungsfähig.

Heute existiert diese Gesellschaft nicht mehr. Die Großindustrie ist abgewandert, Siemens auf einen symbolischen Rest geschrumpft, Borsig und AEG ganz verschwunden. Die Fabrikhallen, in denen Zehntausende arbeiteten, sind abgerissen oder zu Gründerzentren umgewandelt, wo ein Bruchteil der einstigen Beschäftigten arbeitet. Und die kommen auch noch, wann sie wollen: Längst haben moderne Leistungsanreize und elektronische Kontrollen die Stechuhr abgelöst. Es werden keine Massen mehr transportiert – und deshalb braucht es auch keine Massentransportmittel mehr. Die gesellschaftliche Entwicklung ist die Geschichte wachsender Privatheit. Von der Massenunterkunft in der Mietskaserne zur komfortablen Altbauwohnung oder gar zum Eigenheim am Stadtrand. Große Events wie Sportveranstaltungen werden heute nur noch gelegentlich besucht. Man schaut daheim im kleinen Kreise fern. Ein Auto kann sich heute fast jeder Student leisten. Der moderne Mensch möchte für sich sein. Er lebt gern in der Großstadt, aber immer mit dem sicheren Gefühl der Rückzugsmöglichkeit.

Diese neue Gesellschaft braucht keine U-Bahn mehr. Die ökonomischen Daten spiegeln das Unzeitgemäße dieses Kolosses wider: Als Busse, Straßenbahn und U-Bahn 1929 zur BVG vereinigt wurden, tat der Magistrat dies mit der Aussicht auf eine Gewinnabführung des damals größten europäischen Kommunalunternehmens. Heute werden vom Gesamtetat von U- und S-Bahn in Höhe von 1,5 Milliarden Euro gerade mal 560 Millionen Euro durch Eigeneinnahmen erwirtschaftet. Die Berliner und insbesondere die bundesdeutschen Steuerzahler subventionieren die Lokalbahnen der Hauptstadt mit jährlich 1 Milliarde Euro. Und dies sichert nur den laufenden Betrieb. Hinzugerechnet werden müssen noch knapp 8 Milliarden Euro für Investitionen, die seit 1991 für den ÖPNV (mit Regionalbahn) allein in Berlin ausgegeben wurden. In diesem Zeitraum hat die BVG aber gut ein Fünftel ihrer Fahrgäste verloren. Die Auslastung der Züge liegt durchschnittlich unter 15 Prozent.

Überdimensioniert, völlig falsch konstruiert und vor allen Dingen viel zu teuer kommt die U-Bahn heute als Relikt des Industriezeitalters daher. Sie missachtet den Wunsch nach privaten, eigenen, sicheren Räumen. In der U-Bahn bleibt man der städtischen Welt ausgeliefert, die man zwar gerne besichtigt, aber der man sich vor allem jederzeit wieder entziehen möchte. Es ist längst Zeit für eine Abkehr von musealen Schienenbahnen im Nahverkehr. Die U-Bahn brauchen wir nur noch, wenn für wenige Tage das Massenzeitalter zurückkehrt. Beispielsweise wenn sich bei der Love Parade, ähnlich wie vor hundert Jahren, die Körper dicht an dicht zum gemeinsamen Erlebnis verbinden. Dann holen begeisterte Pufferküsser die gelben Wagen wieder aus den Depots und chauffieren die taumelnden Auswärtigen durch die Stadt. Für den Rest des Jahres bekommt jeder Einwohner das Geld fürs Taxi. Das ist in jedem Fall billiger. ANDREAS KNIE

Andreas Knie ist Professor für Techniksoziologie an der TU Berlin. Wir eröffnen mit seinem Beitrag eine Debatte über die Zukunft des Berliner Nahverkehrs. Die Serie wird fortgesetzt.