Chaos ohne Flügelschlag

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zerschmettern den Schmetterlingseffekt

„Wer Schmetterlinge lachen hört, der kann auch Wolken schmecken“

Bis heute sind etwa 170.000 Schmetterlingsarten inventarisiert, es ist ein Insekt, das die Menschheit von jeher faszinierte, und so blieb im Zuge der fortschreitenden Erkenntnisse sein Einsatzgebiet nicht mehr nur die bunt blühende Blumenwiese, nein, der Schmetterling eignete sich bestens als Symbol und Metapher: Er steht für Metamorphose und Mimikry, für das graziös Flatterhafte und Spielerische, leiht Steaks, Messern, einem Schwimmstil seinen Namen und sogar der Seele selbst, denn im Altgriechischen bedeutet psyche eben auch Schmetterling. Nicht zuletzt die Popmusik nahm sich seiner an und produzierte Höhepunkt der Schmetterlingspoesie – so eine deutsche Band namens Novalis: „Wer Schmetterlinge lachen hört, der kann auch Wolken schmecken, der wird im Mondschein ungestört von Furcht die Welt entdecken.“

Und dann war da noch etwas, das sogar die Konversation bereicherte: der Schmetterlingseffekt. Ihn haben nun neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zerschmettert. Aber was war das nochmal, was den Nektarsauger ins Gespräch brachte? Worum geht es eigentlich? Kurz: dass eine winzige Ursache gigantische Wirkungen haben kann. Darum, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings auf den Azoren einen Orkan an der amerikanischen Ostküste auslösen konnte beispielsweise. Das Phänomen konnte man gut gebrauchen. Als die Hoffnung auf umwälzende, wohlgemerkt so richtig tiefgreifend umwälzende soziale Veränderungen zerstoben war; als das Großeganze, die Gesellschaft, das System und der Weltenlauf in toto nicht mehr bereit waren, so auszusehen, als ob alles, wirklich alles gut werden könnte, da wurde der Schmetterlingseffekt gerade rechtzeitig populär, obwohl ihn der Meteorologe Edward Lorenz bereits 1963 be-schrieben hatte.

Wie dankbar jonglierte man mit diesem Begriff aus der Chaostheorie, und zwar umso dankbarer, je weniger man von Naturwissenschaften verstand. Endlich war es nicht bloß philosophisch bewiesen, dass es sinnvoll war, sich im Kleinen zu engagieren, auf Alltagsdinge zu achten, das Nächstliegende zu verbessern, um womöglich dem Lauf der Welt eine neue Richtung zu geben. Auf den Einwand hin, dass alles grundsätzlich keinen Zweck habe, zauberte man fortan den Schmetterlingseffekt hervor: „Wie bitte? Hast du etwa noch nichts davon gehört, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings im brasilianischen Urwald ein Unwetter in der Karibik auslösen kann?“

Der Schmetterlingseffekt war immer ein Volltreffer: Dass Mutter Natur ihrerseits chaotisch agiere, ja dass das Chaos zur Grundausstattung des Lebens gehörte und für jede Menge Überraschungen gut war, leuchtete sofort ein, das passte jedem in den Kram, der sein eigenes Leben voller Stolz am liebsten als chaotisch beschrieb.

Überhaupt war die Chaostheorie sehr attraktiv. Begriffe wie Fraktale und Synergie, nichtlineare Prozesse und Selbstorganisation wurden zusammen mit dem Schmetterlingseffekt zu gesprächskompatiblen Metaphern, und es ist sehr bedauerlich, dass es zumindest mit Letzterem nun so gut wie vorbei ist. Unlängst war der Beilage „Natur und Wissenschaft“ der FAZ zu entnehmen, Wissenschaftler an der Universität Grenoble hätten herausgefunden, dass die Schmetterlinge-These „irrig“ sei, „weil selbst in komplexen, chaotischen Systemen geordnete Strukturen auftreten können, die sich stabilisierend auswirken“.

Zwar ist „in einigen unvermeidlichen Grenzfällen“ der Schmetterlingseffekt durchaus möglich, dennoch wohl im Grunde obsolet, wie man der abschließenden Äußerung Raoul Roberts, eines der Forscher, entnehmen kann: „Ich weiß zwar auch nicht, wie man das Wetter in zwei Wochen vorhersagt; aber was immer uns daran hindert – die Schmetterlinge sind es nicht.“

Wenn nun der Schmetterlingseffekt der kollektiv-chaotischen Konversation entflattert, könnten wir die gewonnene Zeit nutzen, uns von einer Bemerkung Arno Schmidts in seiner „Gelehrtenrepublik“ anregen lassen und den Schmetterlingen endlich einen neuen Namen gönnen: „Das muß auch ein deutsches Rindvieh gewesen sein, der für die paar Kleingaukler den Hammervorschlag ›Schmetter‹ erfinden konnte! Wahrscheinlich n Wiederaufrüster.“ Auf dass die Abrüstung im Kleinen beginne.

DIETRICH ZUR NEDDEN