salt and pepper: Eruptionen und Nachbeben im Eislaufskandal
„Melancholia“ ist besser
Während europäische Schauspieler einmal im Leben den Hamlet spielen wollen, sind jene in Hollywood vor allem auf zwei Rollen scharf: Alkoholiker und Irre. Dafür gibt es nämlich einen Oscar. Selbst eine Knallcharge wie Nicolas Cage hat es auf diese Weise geschafft, für seinen Säufer in dem unsäglichen Film „Leaving Las Vegas“ die begehrte Trophäe zu ergattern, bei der nächsten Verleihung im März sind mit Russell Crowe, Sean Penn und Judi Dench gleich drei Leute nominiert, die geistig Behinderte spielen. Denzel Washington, Sissy Spacek und Co. können gleich zu Hause bleiben, spannend ist eigentlich nur noch, ob Crowe oder Penn.
Das sportliche Gegenstück zum „Oscar-induced overacting“ ist das „goldmedal-induced overacting“, und einsame Weltmeister in dieser Disziplin sind Jamie Sale und David Pelletier, das kanadische Eislaufpaar. Siegeszelebrationen vor dem Urteilsspruch wie die ihre kannte man bisher nur von Boxern, die zwölf Runden lang Prügel beziehen und nach dem Schlussgong im Ring herumhüpfen, als hätten sie den Gegner zehnmal k.o. geschlagen.
Mit ihrer ausgiebigen Jubelei inklusive Eiskuss, Umarmungen und diversen Siegerfäusten konnten sie zwar nicht die Preisrichter beeinflussen, aber das Publikum in der Halle und vor den Fernsehern, Letzteres zusätzlich angestachelt durch die NBC-Kommentatorin (zufällig eine Kanadierin), und Olympiasieger Scott Hamilton, einen alten Veteranen des kalten Eislaufkrieges. Seit die Kanadier aller Vorfreude zum Trotz doch gegen das russische Paar Elena Bereschnaja/Anton Sichuralidse verloren, haben die Spiele in Salt Lake City ihren Chefskandal. Die Kommentatoren der Zeitungen schäumen, kaum ein früherer Eislauftrainer, dessen Schützling mal gegen jemand aus der UdSSR oder DDR verloren hat, versäumt es, sein Entsetzen zu äußern. Jamie Sale und David Pelletier führen ihre Kampagne in eigener Sache auf allen Fernsehkanälen, der kanadische Verband hat Protest eingelegt. Der Internationale Eislaufverband ist so erschreckt, dass er eine Untersuchung der Entscheidung angekündigt hat.
Die Sache selbst lohnt eigentlich die Mühe nicht und wäre schnell vergessen, würde sie nicht hochgespielt von den westlichen Medien, die seit Jahrzehnten jeden Eisläufer in den Himmel heben, der eine Chance gegen die Russen hat, und Verrat schreien, wenn er nicht gewinnt. Der Vorwurf eines Blockvotums gegen die Preisrichter aus Russland, Ukraine, Polen, China und Frankreich, die das russische Paar vorn sahen, ist mindestens im Fall der letzten beiden lächerlich. Eher möglich wäre eine Absprache, für die es Gerüchten zufolge Hinweise geben soll: dass der französische Preisrichter für die Russen stimmt, damit der russische Preisrichter dann im Eistanz die Franzosen Anissina/Peizerat gegen Italiener und Kanadier bevorzugt.
Fakt ist, dass die Entscheidung im Paarlauf sehr knapp war und durchaus auch für die Kanadier hätte ausfallen können. Sichuralidse strauchelte beim Axel, aber dafür gab es sehr wohl die fälligen Abzüge in der A-Note, die normalerweise besser gewesen wäre als bei den Kanadiern, weil die klassische „Melancholia“-Kür des russischen Paares schwieriger und anspruchsvoller ist als die schnulzige und etwas lahme „Love Story“ von Sale/Pelletier. Tamara Moskwina, die in New Jersey lebende Trainerlegende, die sowohl Bereschnaja/Sichuralidse als auch das US-Paar Ina/Zimmermann betreut, hat es, wiewohl natürlich nicht neutral, in ihrer sarkastischen Art auf den Punkt gebracht: „Mehr Tempo, mehr Fluss, mehr Höhe, weniger Eislaufen auf beiden Füßen, weniger Pausen, weniger Rumstehen und Küssen.“ Die Kanadier machten zwar keinen Fehler, aber dass ihre Kür die vom Publikum geforderte 6,0 verdient gehabt hätte, wagen nicht mal sie selbst zu behaupten. Zudem vergleichen alle Kommentare nur die beiden Küren miteinander, vergessen aber, dass auch das Kurzprogramm eine Rolle spielt und das hatten die Russen gewonnen. Jamie Sale und David Pelletier hatten sich dort bei ihrer Schlussfigur der Länge nach aufs Eis gelegt und sich darüber sogleich herzlich amüsiert, was alle sympathisch und charmant fanden, inklusive der Preisrichter, die längst nicht die Punktabzüge gaben, die solch ein dicker Patzer erfordert und so dem Paar Rang zwei retteten. Davon wird genauso wenig gesprochen wie von der Tatsache, dass letztes Jahr bei der WM Sale/Pelletier im Duell der beiden besten Paare einen fragwürdigen Sieg davongetragen hatten. „Wir haben damals nichts gesagt“, erklärt spitz Tamara Moskwina, die sich sonst kaum beeindruckt vom Sturm der Entrüstung zeigt: „Kratzt mich alles nicht. In einem Tag ist das doch vergessen.“
Von wegen. Eislaufskandale sind das Salz in der olympischen Suppe von NBC. Nicht auszudenken, wenn nach alldem jetzt noch Amerikas Liebling Michelle Kwan gegen Irina Slutskaja verlieren sollte.
MATTI LIESKE
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