Immer schön freundlich bleiben

Ein guter Gast zu werden, ist gar nicht so einfach, besonders wenn man den Urlaubsort in den Alpen zum ersten Mal ansteuert und in einer billigen Pension absteigt. Erfahrungen einer lernwilligen Touristin mit trockenen Brötchen und undichten Dächern

„Vor dem Beschweren hätte ich mich als Gast erst einmal bewähren müssen“

von SYBILLE ZERR

„Alpine Gastfreundschaft ist wie guter Wein – sie muss reifen.“ Das hat mir ein erfahrener Gast gleich an meinem ersten Abend in den Bergen näher gebracht. Wer zum ersten Mal als Gast in einen kleinen beschaulichen Ort im österreichischen Pongau kommt, wird schwer nachholen können, was die alteingesessenen Gäste ihm voraushaben. Es fehlt der Stallgeruch, die gemeinsame Geschichte. Das braucht Zeit, weshalb der Vergleich mit dem Wein gar nicht so weit hergeholt ist.

Familiär geht es zu hier heroben. Viele Urlauberfamilien logieren schon seit Generationen bei ihren Gastgebern. Sie buchen bei der Abreise den Aufenthalt für das nächste Jahr und freuen sich auf das Wiedersehen zur selben Zeit am selben Ort. Die Kinder wachsen gemeinsam auf, man wird zusammen alt und jedes Jahr erzählt man sich die Neuigkeiten, die sich in den Monaten der Abwesenheit ereignet haben. Was für ein schönes Bild, Heimat in der Fremde gefunden zu haben. Mir wird warm ums Herz.

Beim Abendessen auf der Jausenstation hoch überm Dorf starte ich meine Bemühungen, Mitglied der alpinen Familie zu werden, denn ich bin ehrlich gesagt etwas neidisch geworden bei den Schilderungen des erfahrenen Gastes. Mein Einstand ist viel versprechend. Schon als ich die Gaststube betrete, empfängt mich Sepp, der Wirt, mit einem neugierigen: „Du warst aber noch nie hier heroben.“ Das Speckbrot ist lecker und Sepp will gleich wissen, bei welcher Familie ich untergekommen bin. Auf einem Bauernhof mit Frühstückspension habe ich mich eingemietet, bei einer alteingesessenen Familie. Eigentlich ein guter Anfang. Schon bei meiner Ankunft auf der Alm habe ich den freien Blick auf die Berge genossen. Da war für mich die Welt noch in bester Ordnung.

Aber muss nicht jeder gute Wein erst einmal gären, bevor er sein volles Bouquet entfalten kann? Wer den schlichten Charme der 60er-Jahre zu schätzen weiß, ist in meiner Frühstückspension gut aufgehoben. Wenn die nachträglich eingebaute Duschkabine im Doppelzimmer die Wahrung jeglicher Intimsphäre verhindert, so hat das mit dem eher sehr günstigen Preis- Leistungs-Verhältnis zu tun. Wer will da schon meckern? Schließlich sind die Zimmer sauber. Natürlich ist es schon unangenehm, wenn man seinen Gang auf’s stille Örtchen nicht nur still, sondern auch im Dunkeln verrichten muss. Am Morgen nach meiner Ankunft melde ich diesen kleinen Makel meiner Wirtin. „Wir haben hier Drehlichtschalter“, lautet ihre knappe Antwort. Sie gibt mir damit das untrügliche Gefühl, für einen weiteren familiären Umgang miteinander vollkommen untauglich zu sein.

Nähe braucht Zeit. Es sind die kleinen liebenswürdigen Schrulligkeiten der Einheimischen, die man ja bekanntlich im Urlaub kennen lernen will, denke ich und freue mich über diesen tiefen Einblick und auf das Frühstück. Die Anfahrt am Vortag war beschwerlich, und so lasse ich mich nun mit viel Appetit in der Frühstücksstube nieder. Eine in Plastik verpackte Marmeladenration mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum wartet auf mich. Schinken und Käse stammen offensichtlich nicht von glücklichen Kühen, die auf sonnig-saftigen Alpenwiesen geweidet haben, und die Eier, die ich erst auf Nachfrage wortlos serviert bekomme, schmecken genauso wie die aus meinem heimischen Supermarkt.

Dafür ist das Wetter herrlich, die Berge rufen. Ich verbringe meinen ersten Tag mit Rodeln. Die Bergluft entschädigt mich reichlich, macht mich rechtschaffen müde und lässt mich schon früh am Abend ins Bett sinken. Der kalte, nasse Tropfen, der von der Dachschräge perlt, trifft mich direkt am Kopf. „Ich werde mich morgen schon wieder beschweren müssen“, denke ich besorgt und zu müde, um das Ärgernis gleich anzusprechen.

Die Nacht ist ungemütlich, denn der Tropfen, der beständig von der Schräge fällt, ist nicht nur nass, sondern verursacht auch, egal wohin ich mich drehe, ein nervenaufreibendes Geräusch.

Am nächsten Morgen ist die Wirtin nicht sehr gesprächig. „Da kann ich doch nichts dafür“, lautet ihre knappe Antwort. Heute gibt es weder Ei noch Tee, und meine Wirtin hat sich beim Servieren des kargen Mahles nicht einmal mehr zu einem Morgengruß entschließen können. Ich sitze allein gelassen in der Frühstücksstube und fühle drohendes Unheil. Ich habe als Gast versagt. Noch am selben Abend werde ich vom Wirt höchstpersönlich mit großem Geschrei vor die Tür gesetzt. Bis in die letzte Dachkammer hat man den Herrn des Hauses schreien hören. Es sei eine Lüge, dass es bei ihm hereinregne. Das sei ihm in 26 Jahren nicht passiert, dass sich ein Gast bei ihm beschwert habe. Er betreibe eine kleine, saubere Frühstückspension. Aufführen würde ich mich mit meinen Ansprüchen, wie die Königin von England, erfahre ich.

Ich gehe gerne und freiwillig. Neue Pension, neues Glück. Mit keinem Wort habe ich meinem neuen Wirt verraten, warum ich die Unterkunft gewechselt habe. Auch wenn das Frühstück immer noch miserabel ist, gilt es nun Haltung zu bewahren. Hat man als Gast erst einmal zwei Wochen lang trockene Brötchen gekaut, Marmelade mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum toleriert und seinen Kaffee erst nach dem Frühstück bekommen, ohne ein Wort der Klage an seinen Gastgeber zu richten, dann kann das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden. Vorausgesetzt natürlich, man kommt im nächsten Jahr trotzdem wieder.

„Echte Gastfreundschaft in den Bergen muss über Jahre hinweg reifen“

Wie gesagt, die alpine Gastfreundschaft ist wie ein guter Wein. Und der braucht ja bekanntlich die alkoholische Gärung und Zeit, um sein volles Bouquet zu entfalten. Ich bin in den Mikrokosmos der alpinen Gastlichkeit vorgedrungen, ohne die lokalen Spielregeln zu kennen. Von vorneherein hatte ich schlechte Karten, denn ich hätte mich als Gast vor dem Beschweren erst einmal bewähren müssen. Dienstleistungsbereitschaft, anderenorts gegen Bezahlung selbstverständlich, muss hier erst mit beständiger Wiederkehr erarbeitet werden.

Gastfreundschaft ist im Pongau nicht käuflich. Freundlichkeit kommt von Herzen und beruht auf Gegenseitigkeit. Ich aber habe die Regeln der alpinen Gastfreundschaft missachtet, bin wie ein Wüstling mit den Gefühlen meiner Wirte umgegangen und habe bleibende Wunden geschlagen, wo ich das Gefühl von Heimat gesucht hatte.

Doch ich bin nicht bereit, den langsamen Prozess der Gärung über mich ergehen zu lassen, um ein guter Gast zu werden. Es ist mein Fehler. Rote Karte bei Regelverstoß. Ich jedenfalls habe meine erste Lektion über die alpine Gastfreundschaft in der sauber geführten Frühstückspension des Bürgermeisters gelernt.

Die Neuigkeit, dass es beim Bürgermeister hereinregnet und er seine Gäste vor die Tür setzt, hat sich in Windeseile im Dorf verbreitet. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Schließlich habe ich mein Leid nur dem erfahrenen Gast vom ersten Abend beim Abendessen in der Jausenstation hoch über dem Ort geklagt. Ganz im Vertrauen: Es geht wirklich familiär zu hier heroben.