Zukunftslose Kür

Russisches Pathos im Übermaß: Alexej Jagudin und Jewgeni Pluschenko siegen im Doppelpack – und drohen, das noch ein paar mal zu wiederholen

von JAN FEDDERSEN

Bruchteile von Sekunden nur, nachdem er die Wertung für seine Kür auf der Anzeigetafel abgelesen hatte, standen ihm Tränen in den Augen. Er senkte dann den Kopf und weinte hemmungslos in die Kameras. Während er auf diese triumphale Weise seine Rührung zeigte, lachte seine Trainerin Tatjana Tarassowa aus vollem Herzen. Ihr Schützling Alexej Jagudin hatte die krönende Ehrung seines Sports endlich erreicht: Gold im Eiskunstlaufen bei Olympischen Spielen.

Und entgegen dem Paarlaufen fiel das Urteil der Jury mit ihren neun Mitgliedern einmütig aus. Zwar wurde auf der Tribüne des Salt Lake City Ice Oval ein Transparent hoch gehalten, das mehr einem Seufzer als einer bösen Unterstellung gleichkam: „Dopingkontrollen für Sportler, Lügendetektoren für Preisrichter.“ Doch anders als in der Paarlaufentscheidung, die nach neuesten Gerüchten durch russische Funktionärshilfe zustande gekommen war und den kanadischen Läufern Jamie Sale und David Pelletier nur Silber überließ, was in der Nacht zu heute sogar den Internationalen Sportgerichtshofes CAS beschäftigt hat,war dieser Abend ganz frei von Erregungen.

Egal ob aus Ost oder West, Jagudin fand Anerkennung für seine sportlich fehlerfreie und obendrein komplizierte Kür. In seinem von züngelnden Stoffflammen aus Bronze auf der Brust – Motto: „Der Mann mit der eisernen Maske“ – hervorstechenden Anzug sprang er den dreifachen Axel, zwei vierfache Toeloops (einen davon in Kombination mit einem dreifachen Toeloop und abschließendem Doppelrittberger) sowie Lutz, Salchow, Flipp und Rittberger (ebenfalls je dreifach) eiskratzerlos und sturzfrei.

Darüber hinaus wirkte seine Aneinanderreihung von Rotationsübungen nicht gehetzt, sondern eingebettet in eine typisch russisch-pathoslastige Musik, die eine dröhnig-versalbte Geschichte begleitete: „Der Mann mit der eisernen Maske“ eben. Der Küraufbau überhaupt sah nicht wie ein Vorwand aus, die Rivalen mit Höchstschwierigkeiten einzuschüchtern.

In der B-Note, dem Wert für den künstlerischen Ausdruck, erhielt der 21-jährige Moskauer sogar viermal die 6,0: das in Ziffern ausgedrückte Nonplusultra, das Signal für den Schritt über das reine Handwerk des Eisspringens hinaus. Jagudin war alles in allem der nervenstärkste Läufer des Abends. Die Konkurrenz machte Fehler: Takeshi Honda aus Japan, auch Timothy Goebel aus den USA, der trotzdem Bronze gewann; ebenso patzte Jewgeni Pluschenko, späterer Silbermedaillengewinner. Pluschenko, der voriges Jahr Jagudin als Weltmeister beerbte und dessen olympische Prognosen deshalb besser waren, zollte dem Kollegen notgedrungen auch öffentlich Respekt: „Es war eine außergewöhnliche Leistung.“

Beide Läufer werden die nächsten Jahre noch nicht zur Eisshow wechseln, sie wollen den sportlichen Wettbewerb weiter führen. Jagudin ist 21, Pluschenko 19 Jahre jung: Das deutet darauf hin, dass beider Rivalität bis zu den Spielen 2006 in Turin andauert. Die restliche (und nachwachsende) Konkurrenz wird es verdrießen, denn der russische Kürmusikstil hat durch dieses Ergebnis neue Meriten erworben: Im Zweifelsfall finden die Preisrichter bajazzohafte Auftritte zu klassischen Evergreens von Tschaikowski oder Bizet besser als jede jazzig oder weltmusikalisch inspirierte Innovation.

Es war deshalb eine der langweiligsten und zukunftslosesten Kürentscheidungen der Olympischen Spiele seit Scott Hamiltons Sieg 1984 in Sarajevo: Jagudin ist wie sein Vorgänger ein Dominator seines Sports, ohne dass er einen Zauber hinterließ. Es sah alles sinnvoll aus. Und genau das war die Crux.