salt and pepper
: Olympische Spiele erwecken Salt Lake City

Eine Stadt spielt verrückt

„Klar. Die Zeiten ändern sich“, sagt der Kellner in einem mexikanischen Restaurant auf die unsichere Frage eines Gastes, ob er eventuell ein Bier bekommen könne – und fügt grinsend hinzu: „Selbst an diesem Fleck.“ Der Fleck heißt Salt Lake City, und es geht tatsächlich Merkwürdiges vor im ehrwürdigen Staate Utah. Man weiß nicht, was Brigham Young, der Gründer der Stadt am Großen Salzsee, von der Sache halten würde, aber man darf davon ausgehen, dass er zumindest befremdet wäre, wenn ausgerechnet seine Mormonengemeinde heftig dementiert, Missionsarbeit zu betreiben. Das seien doch die Baptisten, beteuerte eilfertig ein Vertreter der Kirche der Heiligen der letzten Tage, nachdem ein Kolumnist der Denver Post in einem satirischen Artikel behauptet hatte, an jeder Ecke werde einem eine religiöse Broschüre aufgezwungen. Woody Paige hatte außerdem geschrieben, im heimischen Colorado werde man jedenfalls nicht genötigt, „einen Salamander und eine Möwe anzubeten, drei Cousinen seiner Mutter zu heiraten“. Außerdem werde man nicht dazu verpflichtet, „gruselige Unterwäsche unter seinen Parkas und Skihosen zu tragen“.

Eine Radiostation verlas die Kolumne, und Salt Lake City hatte seinen Skandal, der fast an den im Eiskunstlauf heranreichte. Tausende von Anrufern und E-Mail-Schreibern forderten eine Entschuldigung, selbst Bürgermeister Rocky Anderson schaltete sich ein, erklärte den feindlichen Kolumnisten zu einem „verschärften Fall von saurer Weintraube“ und meinte, dieser solle „das Nachrichtengeschäft besser aufgeben“. Die Mormonenkirche bat allen Ernstes darum, eine Gegendarstellung schreiben zu dürfen, gab sich dann aber mit einer Entschuldigung von Paige zufrieden. Die ging so: „Alles ist großartig hier, es sind die größten Spiele aller Zeiten, und es tut mir wirklich leid. Ich hätte nicht über Unterwäsche schreiben sollen.“

Der Zorn der Utahns auf den Colorado-Mann ist in gewisser Weise verständlich, geben sie sich doch alle Mühe, gar nicht so zu sein, wie sie sind. „Wir kommen uns vor wie im Urlaub“, sagte ein Paar im Zentrum der Stadt, „wir können gar nicht glauben, dass wir hier wohnen. Es ist, als ob man eine fremde Stadt besucht.“ Die ausnahmsweise erteilten 72-Stunden-Lizenzen zum Alkoholausschank, von denen sich so viele aneinander reihen lassen, dass 17 Tage herauskommen, hat in Downtown viele kleine Etablissements aus dem Boden schießen lassen, die von den Olympiabesuchern gern frequentiert werden. Die sonst verödete Main Street nahe den mormonischen Heiligtümern wimmelt von Menschen, vor allem abends, wenn auf der Medals Plaza Rockstars gemäßigter Natur wie Dave Matthews Band oder Nelly Furtado auftreten und jene, die keine der begehrten Karten haben, durch die Straßen flanieren oder an der Olympic Plaza die Zelte der Hauptsponsoren wie Coca-Cola oder Budweiser mit ihren Attraktionen besuchen. Mitten auf der Straße werden zum Entsetzen bigotter Stadtbewohner Kondome verteilt, die Rockbands lärmen die halbe Nacht an diversen Plätzen, überall herrscht Partytime, und es ist ein Wunder, dass sich der berühmte Tabernakel Chor noch nicht in „DJ Tabernacle feat. The Crazy Mormons“ umbenannt hat. Da will selbst die katholische Kirche nicht zurückstehen. „Dass wir Gläubige sind“, sagt Bischof George H. Niederauer, „macht uns noch lange nicht zu Sauertöpfen.“

Ältere Einheimische fühlen sich an die Fifties erinnert, als man zur Main Street kam, um zu bummeln, ins Kino oder essen zu gehen, Musik zu hören oder zu tanzen. Mit dem Bau zweier Einkaufszentren, der Crossroads Mall und des ZMCI Center Anfang der Achtzigerjahre erstarb jedoch das Leben auf der Straße. „Ich bin schockiert“, sagt ein Exbewohner, der nach San Francisco zog, weil ihm hier zu langweilig war, „die Stadt ist wiederbelebt.“

Besonders heiß geht es in einem Haus zu, dass die ehrwürdige Universität an Snowboarder vermietet hat. Nachbarn beschweren sich bitter über Lärm und Müll, doch der stammt keineswegs von den Sportlern, so ein für die Reinigung des Gebäudes zuständiger Putzmann, sondern von jungen Fans aus Salt Lake City. „Diese Utahns können sich nicht kontrollieren, es ist, als hätten sie noch nie was zu trinken bekommen, und jetzt spielen sie einfach verrückt.“ Inzwischen haben die Snowboarder Einlasskontrollen eingeführt und einen Rausschmeißer engagiert.

Viele Einheimische hoffen, dass nach den Spielen nicht wieder die alte Verlassenheit einkehrt. „Menschen und Aktivitäten machen eine Stadt aus“, sagt Joe Farrington, der den Zusammenschluss der Geschäftsunternehmen in Downtown vertritt, „auf diesem Schwung müssen wir aufbauen.“ Viele Laden- und Restaurantbesitzer, die wegen der Spiele gekommen sind, haben bereits signalisiert, dass sie bleiben und einen Versuch wagen wollen. „Die Leute sind wieder mehr an urbaner Atmosphäre interessiert“, sagt ein Koch des World Café im Wells Fargo Center, „mir scheint, das passiert hier auch.“ Las Vegas, zieh dich warm an!

MATTI LIESKE