Das Recht schützt die Großen

Internationaler Gerichtshof kippt Belgiens Haftbefehl gegen Kongos Exaußenminister. Nun könnten alle Klagen in Belgien wegen Kriegsverbrechen im Ausland kippen – zum Beispiel die gegen Scharon

von DOMINIC JOHNSON

Eine Niederlage Belgiens vor Gericht dient jetzt der belgischen Regierung möglicherweise als Vorwand, die Verfolgung von Kriegsverbrechen in anderen Ländern einzustellen. Erstes Opfer könnte die in Belgien anhängige palästinensische Klage gegen Israels Ministerpräsidenten Ariel Scharon wegen der Massaker an palästinensischen Flüchtlingen im Libanon 1982 sein, über deren Zulässigkeit ein Brüsseler Gericht am 6. März zu entscheiden hat.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte am Donnerstag nachmittag Belgien aufgefordert, den seit April 2000 bestehenden Haftbefehl gegen Abdoulaye Yerodia, damals Außenminister der Demokratischen Republik Kongo, aufzuheben. Es gab damit einer Klage von Kongos Regierung statt. Der Haftbefehl bedeute „eine Verletzung einer Verpflichtung Belgiens gegenüber dem Kongo, indem er die Immunität des amtierenden Außenministers des Kongo nicht respektierte und vor allem seine damals von ihm völkerrechtlich genossene Immunität und Unverletzlichkeit gegenüber strafrechtlicher Verfolgung brach“, so das Gericht.

Yerodia hatte im August 1998 zu Beginn des zweiten Kongo-Krieges die Bevölkerung über Radio zu Angriffen gegen Tutsi aufgerufen, woraufhin es zu Fällen von Lynchjustiz kam. Nach Belgien geflohene Tutsi strengten gegen den Minister ein Verfahren an, und am 11. April 2000 stellte die belgische Staatsanwaltschaft gegen Yerodia einen Haftbefehl aus. Nachdem die belgische Justiz sich für zuständig erklärte, zog Kongos Regierung im Herbst 2000 vor das Internationale Gericht in Den Haag. Zugleich degradierte sie Yerodia zum Bildungsminister, womit er vor Auslandsreisen sicher war. Im Februar 2001 verlor Yerodia auch dieses Amt.

Das Den Haager Gericht urteilte nun, dass amtierende Außenminister diplomatische Immunität genössen und damit vor Strafverfolgung sicher seien. Selbst das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal oder das UN-Jugoslawientribunal habe keine amtierenden Außenminister angeklagt. Daher sei der Haftbefehl gegen Yerodia zurückzuziehen.

Teile der belgischen Regierung folgern daraus nun, dass das dem Haftbefehl zugrundeliegende belgische Gesetz von 1993 geändert werden müsse. Nach diesem Gesetz können Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor belgischen Gerichten verfolgt werden – unabhängig davon, wo und von wem sie begangen wurden. Im ersten Verfahren unter diesem Gesetz wurden vier Nonnen aus Ruanda im Juni 2001 wegen ihrer Beteiligung am ruandischen Genozid zu langen Haftstrafen verurteilt. Zahlreiche Klagen sind inzwischen in Belgien gegen ausländische Staatsmänner eingereicht worden, unter anderem gegen Fidel Castro, Saddam Hussein, Jassir Arafat, Ali Haschemi Rafsandschani und Ariel Scharon.

Sie alle können nun aufatmen. Denn das belgische Außenministerium hat in Reaktion auf das Den Haager Urteil gesagt, das Gesetz von 1993 müsse „korrigiert“ werden. „Das Urteil ist klar: Immunität für alle Minister für alle während ihrer Amtszeit begangenen Verbrechen“, sagte Jan Devadder vom belgischen Außenministerium und fügte hinzu: „Aus meiner Sicht ist die Affäre Scharon geschlossen.“

Doch die Haltung der belgischen Regierung ist nicht deckungsgleich mit dem Den Haager Urteil. Zum belgischen Gesetz von 1993 sagt das Gericht, es könne den Standpunkt des Kongo nicht akzeptieren, wonach dieses Gesetz an sich völkerrechtswidrig sei.

Das Den Haager Urteil verbietet auch keineswegs die strafrechtliche Verfolgung von Politikern. „Das Gericht betont, dass die von amtierenden Außenministern genossene Immunität nicht bedeutet, dass sie Straflosigkeit genießen“, heißt es im Urteilstext. „Die völkerrechtlichen Immunitäten eines amtierenden oder ehemaligen Außenministers stellen kein Hindernis für strafrechtliche Verfolgung unter gewissen Umständen dar.“

Der Urteilstext nennt vier solche Umstände. Erstens gelte die Immunität nicht im Staatsgebiet des Beschuldigten. Zweitens könne die eigene Regierung die Immunität insgesamt entziehen. Drittens „darf ein ehemaliger Außenminister eines Staates in Bezug auf Taten, die er vor oder nach seiner Amtszeit begangen hat, oder während seiner Amtszeit als Privatperson begangen hat, vor ein Gericht eines anderen Staates gestellt werden, solange dieses völkerrechtlich zuständig ist.“ Als vierte Möglichkeit werden internationale Tribunale angegeben.

Dennoch besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Belgien das Urteil nun zu Gesetzesrevisionen nutzt, die über den Den Haager Hinweis auf völkerrechtliche Immunitäten hinausgehen. Menschenrechtler sind alarmiert. Georges-Henri Béanthier, Anwalt der Kläger gegen Yerodia, äußerte gestern Sorge darüber, dass jetzt eventuell nur noch „kleine Täter“ vor Gericht kommen. Human Rights Watch erklärte, das Urteil bestätige die Notwendigkeit, endlich einen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen.

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