Reise zurück ins Zwielicht

1992 schlug Italien einen neuen politischen Weg ein. Er führte zu Berlusconi

„Wir würden unter Brücken schlafen oder mit Mafia-Anklagen im Gefängnis sitzen.“

aus Rom MICHAEL BRAUN

Was am Abend des 17. Februar 1992 in Mailand geschah, war eigentlich italienischer Alltag: Die Polizei erwischte den sozialistischen Lokalpolitiker Mario Chiesa beim Inkasso der bescheidenen Schmiergeldsumme von 7 Millionen Lire (das entsprach etwa 10.000 Mark). Eine Geschichte für die hinteren Seiten der Tageszeitungen.

Italien hatte wichtigere Themen: Die Parlamentswahlen standen an, und die heiße Frage war, ob nun der Sozialistenchef Bettino Craxi Regierungschef werden würde und der christdemokratische Altmeister Giulio Andreotti Staatspräsident oder umgekehrt. Die Bürger lasen regelmäßig Unappetitliches in der Presse – so im November 1991 ein Abhörprotokoll des Gesprächs zwischen einem Politiker der Region Latium und einem Reinigungsunternehmer. Da fällt der Politiker aus allen Wolken, als er erfährt, dass der für die Region tätige Unternehmer noch nie Schmiergelder gezahlt hat – und legt dem Gegenüber gleich eine „Geldbuße“ für entgangene Bestechungsgelder auf.

Der frisch inhaftierte Mario Chiesa? Eine störende Restgröße im Wahlkampf. Ein „Spitzbube“, so Craxi, für den das Thema damit erledigt war. Nicht erledigt dagegen war es für die Ermittlergruppe „Mani pulite“ bei der Mailänder Staatsanwaltschaft, die seit Monaten den Korruptionsnetzwerken hinterherspürte. Nicht erledigt war der Fall auch für den verhafteten Mario Chiesa. Der packte aus, erzählte, wie er seine Position als Leiter eines großen kommunalen Altenheims nutzte, um den eigenen Aufstieg in der sozialistischen Partei zu finanzieren, wie er aber auch die den Lieferanten abgepressten Korruptionsgelder an andere Politiker weiterleitete.

Seine Aussagen kamen zu spät, um die Wahlen am 5. April 1992 noch zu beeinflussen – doch der Wind im Lande hatte sich ohnehin gedreht. Die Sozialisten stagnierten, die Christdemokraten schrumpften, die populistische Lega Nord dagegen konnte fast 9 Prozent verbuchen. Die Mailänder Staatsanwälte um Francesco Saverio Borrelli und Antonio Di Pietro nutzten die Gunst der Stunde. Ausgehend von Chiesas Aussagen hebelten sie das Korruptionsnetzwerk aus: die U-Bahn, der Flughafen, die kommunalen Versorgungsbetriebe kamen unter die Lupe, hunderte Verdächtige aus Politik und Geschäftswelt wurden zum Verhör bestellt oder gleich eingebuchtet. Andere Staatsanwaltschaften zogen nach, in Turin, Venedig, Neapel, Rom. „Tangentopoli“ – die „Schmiergeldstadt“ war überall: Kein öffentlicher Auftrag, bei dem nicht Schmiergelder geflossen wären, kein Unternehmen, von Fiat über Olivetti zu den Staatsholdings IRI und ENI, das nicht zugleich Geldmaschine für die Parteien gewesen wäre.

Womöglich wäre die Situation für die Regierungsparteien noch zu retten gewesen, wenn nicht die Mafia im Mai 1992 den Staatsanwalt Giovanni Falcone, dann im Juli seinen Kollegen Paolo Borsellino in die Luft gesprengt hätte. Hie saubere Justiz, da schmutzige Politik – der Unmut steigerte sich zum Volkszorn und machte die Korruptionsermittler unangreifbar. Im Dezember 1992 bekam Bettino Craxi selbst seinen ersten Ermittlungsbescheid – und danach dutzende Spitzenpolitiker aus Christdemokratie und der Sozialistischen Partei .

Craxi versuchte sich nach dem Motto „Così fan tutti“ (So machen’s alle) zu verteidigen: Politik sei teuer, die legale Parteienfinanzierung reiche nicht, da hätten halt alle Parteien illegale Quellen aufgetan. Die Verteidigungsstrategie nützte ihm weder vor Gericht – er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt und floh nach Tunesien – noch im Lande. Eine breite Front der Medien unterstützte die Mailänder Ermittler. Vorneweg die Medien eines Mannes, der eigentlich seinen Aufstieg der Freundschaft Craxis verdankte: Silvio Berlusconi. Sein Pate kam in Bedrängnis – und Berlusconi ging auf Abstand: „Schmiergelder? Die habe ich nicht bloß geahnt, die wurden auch mir abverlangt. Das war ein unakzeptables System, dem man sich gar nicht entziehen konnte.“

Vielleicht glaubte Craxi-Intimus Berlusconi, sich selbst mit solchen Erklärungen den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen entziehen zu können. Kaum jedoch konnte er so der Gefahr entrinnen, dass mit dem Zusammenbruch der Regierungsparteien seine geschworenen Feinde, die gerade zur Sozialdemokratie gewendeten Exkommunisten, an die Macht kämen. 1993 war die Auflösung der alten Parteienlandschaft in vollem Gange – und Berlusconi entschloss sich, in die Politik zu gehen und seine Interessen zu verteidigen. Berlusconis Spitzenmanager Fedele Confalonieri redet da nicht groß herum: „Die Wahrheit ist, dass Berlusconi, wenn er nicht in die Politik gegangen wäre und Forza Italia gegründet hätte – dass wir dann heute unter den Brücken schlafen würden oder mit Mafia-Anklagen im Gefängnis säßen.“

Berlusconis präsentierte sich, ohne rot zu werden, als „neue Kraft“. Mit dieser Masche gewann er 1994 die Wahlen, an der Seite zweier Parteien, die zu den eifrigsten Fans der Mailänder Staatsanwälte zählten – Alleanza Nazionale und die Lega Nord. Die Symbolfigur der Korruptionsermittler, Antonio Di Pietro, bekam von Berlusconi gar das Innenministerium angetragen.

Kaum aber war Berlusconi Ministerpräsident geworden, flatterte auch ihm ein Ermittlungsbescheid ins Haus. Korruption, Bilanzfälschung, Richterbestechung, die Liste der Vorwürfe war lang – und die eben noch von Berlusconi gefeierten Helden verwandelten sich in Lumpen. Ein „Justizstaatsstreich“ sei 1992 über die Bühne gegangen, angezettelt von „roten Roben“, gerichtet gegen die „demokratischen Parteien“, im Auftrag der Kommunisten natürlich. Und dieser Putsch finde seine Fortsetzung in den Verfahren gegen Berlusconi.

Unnütz, dass die Staatsanwälte gegen das ganze Gerede von der „Verfolgung Unschuldiger“ auf die weit über 1.000 Schuldsprüche verweisen, die seit 1992 ergangen sind. Anders als damals steht die Justiz heute wieder allein. Auch die Mitte-links-Koalition unternahm nämlich nach Berlusconis kurzer erster Amtsperiode so gut wie nichts, um der Justiz den Rücken zu stärken. Berlusconi trat 2001 erneut an –und gewann die Wahl. Die Justiz bekommt jetzt die Quittung: Pünktlich zum zehnten Jahrestag des „Tangentopoli“-Skandals beruft Italiens Parlament einen Untersuchungsausschuss ein. Der soll sich nicht etwa mit der Korruption beschäftigen, sondern mit dem unseligen Wirken der Korruptionsermittler.