Die Anrufung der Sauberkeit

„Slumcity Berlin!“ – Eine Herausforderung für die mehr als hundert Gäste der Friedrich-Ebert-Stiftung. Mit ihrem Idealismus wird der „Frühjahrsputz Berlin 2002“ ganz bestimmt ein Erfolg

von WALTRAUD SCHWAB

„Die Straßenbäume müssen gedüngt werden“, ruft ein Mann ins Mikrofon. Hausmeister sei er. Ein Einzelkämpfer gegen den Schmutz in der Stadt. „Die Bäume haben den Krieg überlebt und gehen jetzt kaputt am Dreck.“ Ein anderer verlagert sein ganzes Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen beim Gang nach vorne: „Illegale Graffiti bekämpfen“, fordert er. Weil die Wichtigkeit seines Anliegens so auf ihm lastet, habe er gar einen Verein gegründet. „Gnadenlose Verfolgung von Wildparkern“ will eine Dritte; „Hundekotbeseitigung“ plagt eine Vierte. „Ordnungsrecht endlich durchsetzen“, verlangt ein aufgebrachter Mann, ein anderer zeigt die rote Karte, mit der Frankfurter Saubermänner den Verschmutzern den moralischen Imperativ lehren.

Mehr als hundert Leute haben zwei Tage lang den Ärger der Straße in die Friedrich-Ebert-Stiftung getragen. „Slumcity Berlin – Gemeinsam handeln für eine l(i)ebenswerte Stadt!?“ stand auf der Tagesordnung. Die Metropole an der Spree versinke im Dreck. Weil das Problem so elementar und der Gemeinsinn so geplagt ist, hat jeder was dazu zu sagen. Weil es so schön ist, endlich was dazu sagen zu dürfen, sagt jeder was – gleich ob Idealist, „Kümmerer“ oder Hilfssheriff. Ein „Open Space“ wurde dafür von der SPD-Stiftung einberufen. Eine Arena, in der Rage und Verzweiflung angesichts der Vermüllung ausgesprochen werden kann. Konsequenzen muss niemand fürchten.

Gekommen sind Else Krützmanns und Hans Lipowskis. Erstere eine jener alten Damen, die mit Herz und Kopfschütteln an ihrer Stadt hängen. Mit der Geschwindigkeit, mit der sich die Nachbarschaften auflösen, halten sie jedoch nicht Schritt. In ihrer Ohnmacht heben sie Dosen auf und tragen sie zum nächsten Papierkorb. Jede von ihnen glaubt, sie sei die Einzige auf der ganzen Welt, die sich den Lebensabend damit vergällt, und ist fest davon überzeugt, dass die Allgemeinheit in ihr bereits jenen Grad an Altersstarrsinn entdeckt, der für andere eine Gefahr bedeutet. Die Lipowskis dagegen waren früher meist Polizisten und später Schriftführer bei den Laubenpiepern. Nun machen sie sich große Sorgen wegen des wilden Plakatierens an Bahndammzäunen.

Imbissbudenbesitzer, Hundeklovertreiber, Lehrer, Angestellte von Bezirks- und Ordnungsämtern, Lokalpolitiker aller Couleur, Quartiersmanager, Müllmänner, Parkbesucher fehlen bei der Versammlung ebenfalls nicht. Selbstredend ist die Senatsverwaltung und die Hundebesitzerlobby anwesend. Aus besserem Grund fühlen sich diese gern missverstanden und immer für alles verantwortlich gemacht. Ein Anleiter – der Open-Space-Guru Michael Pannwitz – sorgt dafür, dass Unmut nicht die Oberhand gewinnt, und erklärt, wie der Freiraum, in dem einzig das Alltagswissen der Anwesenden den Ton angibt, nicht nutzlos vergeudet wird – jeder darf sein Anliegen vorbringen. In der Mitte des Raumes kniet er auf dem Boden, schreibt es vor den Augen aller auf einen Zettel, stellt sich und sein Thema noch einmal vor dem Mikrofon vor, hängt den Zettel danach an eine Wand und wartet darauf, dass andere mit ihm darüber sprechen. Zweiundvierzigmal insgesamt an diesem Wochenende.

Eine grandiose Anrufung an die Sauberkeit beginnt. Eine heilige Messe, in der Meinungen zu Tatsachen mutieren dürfen und die am Ende deshalb läutert, weil alles gesagt werden kann, was von der Zunge springt: dass alle Jugendlichen Dosen und Kippen auf den Boden würfen, dass Ausländer in ihren Wohnungen aber nicht vor ihren Haustüren putzten, dass Sozialhilfeempfänger sich Hunde hielten, weil das Sozialamt ihnen dann mehr Geld gebe, dass Graffitisprayer sich über jede saubere Wand freuten und den Punks, Alkis und Drogenabhängigen sowieso.

Eineinhalb Stunden bekommt jeder für sein Thema. Meist fällt gegen Ende der Session auf, dass genau jene Verteufelten nicht unter denen sind, die zu dieser Versammlung gekommen sind. An der Stelle hakt gern ein Besonnener ein und sagt: „Wir leben eben nicht nur in einer Wegwerfgesellschaft, sondern in einer Menschenwegwerfgesellschaft.“ Von Metaphorik überwältigt, sagt niemand mehr etwas.

Die Anliegen fallen in zwei Gruppen. In der einen wird der Muss-Faktor groß geschrieben. Nach Strafe, Sanktion, Bußgeld und Autorität wird verlangt. In der anderen stehen die Ursachen für die Verdreckung im Vordergrund: Verarmung, Kommunikationsverlust, Perspektivlosigkeit. Tabus gibt es keine. Stattdessen gilt „das Gesetz der zwei Füße“. Trifft jemand den Nerv der Anwesenden nicht, merkt er es, indem diese fernbleiben. Es ist die einzige Regel, die bei einem Open Space gilt. Vornehm lautet sie: „Ich achte und ehre die Arbeitsgruppe, indem ich sie verlasse, weil ich weder was lerne noch was beitrage.“

Erschöpft von so viel Freiheit, setzen sich als Fazit doch die umsichtigeren Ideen durch: „Nicht alles, was sauber ist, ist auch gut.“ Ratschläge werden verteilt, Wege gesucht, wie „Ärger konstruktiv in Freude umgewandelt“ werden kann. Als Buße aber gibt der Hausmeister, der am Anfang das Wort ergriffen hat, der Versammlung auf, sofort mit dem „Frühjahrsputz Berlin 2002“ zu beginnen.