salt and pepper
: IOC übt sich in Alchemie und Populismus

Skategate

Bislang ist es nur ein Gerücht, dass der Deutsche Skiverband beim IOC eine Goldmedaille für Skispringer Sven Hannawald beantragt hat, weil die Luft in Park City so unanständig dünn ist und Zwerge wie den Schweizer Simon Amman bevorteilt. Sicher hingegen ist, dass das kanadische Paar Jamie Sale/David Pelletier eine Goldmedaille erhält, die erste bei diesen Spielen, die nicht im Wettkampf erstritten, sondern von der öffentlichen Meinung, sprich NBC, verliehen wurde. „Drive Through-Gerechtigkeit“ nennt die Zeitung USA Today die auf Drängen des pragmatischen IOC-Präsidenten Jacques Rogge zustande gekommene Aktion zur Dämpfung des Entrüstungssturmes, der Nordamerika nach der Entscheidung im Paarlauf heimsuchte und alle anderen Geschehnisse an den Rand drängte. Vor allem bei NBC, das kaum noch Sendezeit für irgendetwas anderes als „Skategate“ übrig hatte.

Die wundersame Goldvermehrung ist eine perfekte Lösung: Das ursprünglich siegreiche russische Paar Elena Bereschnaja/Anton Sichuralidse schweigt still, weil es seine Medaillen behalten darf, als Sündenbock wird den Medienwölfen die praktischerweise abgereiste französische Preisrichterin Marie-Reine Le Gougne zum Fraß vorgeworfen, die, so Eislaufpräsident Ottavio Cinquanta, „ein Geständnis unterschrieben“ habe. Nebulös hieß es, jemand habe Druck auf sie ausgeübt, für die Russen zu werten. Ein merkwürdiger Beschluss ist es allemal, denn entweder gab es keinen Betrug, dann dürften die Kanadier auch nicht Gold bekommen, oder es gab einen Betrug, dann müsste das russische Paar seine Medaillen abgeben. Dies hätte bloß den schweren Nachteil, dass man etwas Handfestes beweisen müsste, und das kann offenbar niemand. Keiner weiß, wer warum Druck ausgeübt haben soll, auch Signore Cinquanta schweigt sich dazu aus.

Es werde immer von irgendwelchen Seiten versucht, Druck auszuüben, sagen altgediente Preisrichter, das bedeute nicht zwangsläufig, dass man diesem auch nachgebe. Außer der Französin, die anfänglich jedes Fehlverhalten bestritten hatte, entschieden immerhin noch vier andere für die Russen, wofür es – trotz eines Stolperers von Sichuralidse – gute Gründe gab. „Es ist, als würde ein Pianist das dritte Klavierkonzert von Rachmaninoff mit ein oder zwei kleinen Fehlern spielen und ein anderer ein Debussy-Stück fehlerfrei“, verweist Dimitri Zlodorew von der russischen Nachrichtenagentur Tass auf den höheren Schwierigkeitsgrad der russischen Kür. Wenig plausibel erscheint die Theorie eines Kuhhandels: die französische Stimme beim Paarlaufen für die russische Stimme beim Eistanz. Damit hätte Russland schließlich gegen sein eigenes goldverdächtiges Eistanzpaar stimmen müssen.

Nach dem seltsam-salomonischen Richterspruch des IOC melden sich sogar aus den USA vermehrt kritische Stimmen zu Wort. Da könne man künftig gleich das Publikum entscheiden lassen, meinen die einen, mit dem Präzedenzfall sei dem Einklagen von Medaillen Tür und Tor geöffnet, fürchten die anderen. Der Erste, der schon auf der Matte steht, ist der Boxer Roy Jones jr. Dem hat das IOC bislang beharrlich das ihm zustehende Gold von Seoul 1988 verweigert, obwohl in diesem Fall klar bewiesen ist, dass seine Niederlage gegen einen Südkoreaner purer Betrug war. Warum er bisher leer ausging, hat USA Today auf den Punkt gebracht: „Er ist eben nicht so niedlich wie Jamie Sale.“ Diverse Gegner, die Roy Jones nach dem Südkoreaner vor die Fäuste gerieten, werden das gern bestätigen.

Roy Jones muss zwar noch weiter warten, aber dafür bekam außer den kanadischen Paarläufern ein anderer Sportler jetzt in Salt Lake City eine verspätete Goldmedaille: der Russe Nikolai Khabibulin. Dem Eishockeytorwart war die Trophäe geraubt worden. Bei dem Schurken handelte es sich um keinen anderen als seinen Trainer Viktor Tichonow. Der langjährige Zuchtmeister der sowjetischen Sbornaja hatte das Team der GUS vor zehn Jahren in Albertville noch einmal zum Olympiasieg geführt und war der Meinung, er habe so viel für das sowjetische Eishockey getan, dass ihm nun auch eine Goldmedaille zustünde. Kurzerhand schnappte er sich die von Khabibulin, der dritter Torwart war und nicht wagte zu protestieren, weil er ja keine einzige Minute gespielt hatte. Der Internationale Eishockeyverband verlieh dem Keeper von Tampa Bay Lightning, jetzt die russische Nummer eins, vor dem Spiel gegen Weißrussland eine Ersatzmedaille. Beflügelt hat ihn diese nicht. Khabibulin, der im Sommer mit den Weißrussen trainiert hatte, machte beim 6:4 eine unglückliche Figur. Gegen die USA sah er am Samstag aber schon etwas besser aus, was auch Elena Bereschnaja freute. Die hat sich die Laune durch die Skategate-Posse nicht verderben lassen und bejubelte ausgelassen die russischen Tore beim 2:2. Ihren Partner hatte sie zu Hause gelassen. Der wäre vermutlich bloß wieder gestolpert. MATTI LIESKE