Das verordnete Geschlecht

■ Als er elf Monate alt war, entschieden die Ärzte und Eltern, Michel Reiter zum Mädchen zu machen. Heute klagt er für ein „H“ im Pass: „H“ für Hermaphrodit.

Er sollte ein normales Mädchen werden: Einen Monat vor seinem ersten Geburtstag entschieden Ärzte und Eltern von Michel Reiser, ihn dem weiblichen Geschlechte zuzuordnen. Denn Michel war mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen – ein Zwitter. Das Baby hatte zwar einen Penis, aber auch eine Gebärmutter und „weibliche“ XX-Chromosomen. Mit Operationen, Hormonen und schmerzhaften Eingriffen wurde nun „richtig“ gemacht, was „falsch“ war: Der Penis wurde entfernt, stattdessen bastelten die Chirurgen eine künstliche Vagina, die dann noch „beischlaffähig“ gemacht werden musste. Kein Einzelfall: etwa jedes tausendste Kind in Deutschland kommt als Zwitter, als Hermaphrodit, auf die Welt.

Unterstützt unter anderem vom Bremer Filmbüro und dem Kulturressorts haben die Regisseure Oliver Tolbein und Bertram Rotermund nun drei solcher Geschichten in einem Dokumentarfilm miteinander verschnitten: Neben dem Bremer Michel Reiter, der zwanghaft zur Frau operiert wurde, eine Frau, die sich die Hoden entfernen ließ und ein Vater, dessen Tochter männliche wie weibliche Körpermerkmale aufweist. „Das verordnete Geschlecht“ hat am Mittwoch in Bremen Premiere.

„Die anatomischen Ergebnisse dürfen nicht bei der Kohabitation hinderlich sein“, erklärt ein Arzt in dem Film vor einem Plastikmodell von männlichen und weiblichen Genitialien. „Ich habe nach wie vor kein gutes Körpergefühl“, berichtet Reiter. Dann liest er aus seiner Krankenakte: Als „ein frisches schlankes Mädchen“ beschrieben ihn die Ärzte im Alter von 11 Jahren. „In Größe, Gewicht und Körperform genau im Durchschnitt“, steht dort vermerkt. Die alten Photos aus den Familienalben, die in den Film geschnitten sind, bestätigen das. „Ich bin weder Mann noch Frau“, sagt Reiter heute.

Gesagt, was wirklich mit ihm passiert war, haben ihm selbst seine Eltern nicht: „Die haben alle Hinweise vernichtet.“ Sogar das Baby-Foto-Album wurde umgeschrieben: „Wir haben ein Töchterlein geboren“, steht heute darin. Als Reiter 29 war, ging er zum Standesamt und verlangte seine Geburtsurkunde. „Auf Anordnung des Amtsgerichts München wird berichtigend vermerkt: Das Kind ist weiblichen Geschlechts. Der Vorname Michel gilt als nicht angezeigt. Der Standesbeamte“, steht darin vermerkt. Reiter: „Ich habe kein Verhältnis zu meinen Eltern mehr.“

Wenn Reiter von den Operationen und Eingriffen redet, die einen Zwitter zum Mann oder zur Frau machen sollen, dann spricht er von „Genitalverstümmelung“ und „Vergewaltigung“. Sexualität ist für den heute 35-Jährigen noch immer prekär. „Ich will nie wieder was Penisähnliches in meinem Bett haben“, sagt er und muss dabei an die Apparate denken, die ihn „beischlaffähig“ machen sollten.

Reiter lehnt nicht nur die Aufteilung der Menschheit in weiblich und männlich ab: „Das ist absurd und reine Ideologie.“ Auch den Glauben, dass Geschlecht lediglich ein soziales Konstrukt sei, hält er für falsch: „Das funktioniert nicht.“ Im Gegenteil: „Der Konstruktivismus ist die Legitimationsgrundlage für die menschenrechtsverletzenden Eingriffe.“

Mit anderen Betroffenen hat er deswegen vor fünf Jahren die Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG) gegründet. Die protestiert unter anderem auf Ärztekongressen. „Zwitter sind seit 1920 medizinische Forschungsobjekte“, sagt Reiter. Operationen an den Geschlechtsteilen will er nicht völlig abschaffen. Aber: „Das darf man erst machen, wenn die Betroffenen das selbst entschieden haben.“

Vor dem Landgericht München streitet Reiter zur Zeit für ein „H“ in seinem Pass – „H“ wie Hermaphrodit. Dafür will er zur Not bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. „Wir müssen klären, was Geschlecht eigentlich ist“, fordert er und meint das nicht nur juristisch. Eine Antwort weiß indes auch Michel Reiternicht.

Armin Simon

„Das verordnete Geschlecht“ (D 2001, Regie: Oliver Tolbein und Bertram Rotermund) hat am Mittwoch, dem 20. Februar, um 20.30 Uhr im Kino 46, Waller Heerstraße ( 387 67 31) seine Bremer Premiere. Hauptdarsteller Michel Reiter und Regisseur Bertram Rotermund stehen anschließend für Fragen und Diskussionen zur Verfügung.

Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie: 376 29 05, www.aggpg.de