vorlesungskritik
Welches Geschlecht haben die Atome?
: Keiner hat Recht

Akademische Fragen können wie ein Motor sein. Ratternd produzieren sie neue Probleme, die verwandeln sich wieder in Fragen, produzieren Probleme, und so weiter. Als besonders antriebsam erwies sich neulich die Frage „Haben Atome ein Geschlecht?“ Studenten ahnten wohl schon, was kommen würde, und hielten sich fern. So fand die Problemproduktion vor einem älteren, kleineren und etwas verloren wirkenden Testpublikum statt.

Wie das dann immer so ist: Man nimmt sich ein Herz und rückt gegen das Verlorensein ein paar Stühle weiter nach vorn. Man räuspert sich und achtet auf das Einhalten des einzuhaltenden Abstands zum Nächsten. Man wartet auf den erlösenden Anfang. Den endlich der Physiker und Erziehungswissenschaftler Wilhelm Quitzow machte. Im persönlich gehaltenen Plauderton versuchte er sich an der Frage, ob Atomen ein sozialhistorischer Nexus eingeschrieben sei und damit eine bestimmte Ordnung der Geschlechter. Als alter Hase im Unibetrieb erzählte er von seiner anfänglichen Begeisterung für sein Fach, die Physik. Zweifel an den Naturwissenschaften seien ihm erst sehr spät, nämlich beim Schreiben seiner Doktorarbeit, gekommen.

Quitzow erzählt, wie sich für ihn schon in den Siebzigern unter Zuhilfnahme der aufkeimenden feministischen Theorien unmissverständlich gezeigt habe, dass auch sein Fach von männlichen Interessen und Zwängen bestimmt sei. Soweit diese Theorien der Naturgesetze nicht in Frage stellten, sei er eigentlich d’accord mit ihnen. Doch überallhin könne er ihnen nicht folgen. Sichere Erkenntnisse halte er zum Beispiel sehr wohl für möglich. Und die Ausgangsfrage? Atome seien objektiv vorhanden, sie hätten kein Geschlecht.

Die Gender-Theoretikerin Kerstin Palm kommt eigentlich von der Biologie. Es sei kein Zufall, sagte sie, dass die Wissenschaftskritik, die sie betreibe, nicht in ihrem alten Fach habe stattfinden können. Das macht sie nun an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Uni. Sie nahm sich nun ein Problem vor, das sich aus dem Vorigen ergab: Gibt es überhaupt objektive Erkenntnisse? Außerdem schwebte noch die männliche Umarmungsgeste ihres Vorredners im Raum. Palm erledigte beides auf einmal. Sie sagte, hinter Erkenntnissen steckten nicht nur Partikularinteressen, sondern auch „maskulinistische Phantasmen“. Atome hätten also doch ein Geschlecht. Und wir könnten gar nicht wissen, ob das, was wir täten und erlebten, objektiv wahr sei. Es sei denn, man weise sich selbst eine Allmachtsposition zu.

Immer schneller floss der Wortstrom, immer komplizierter wurden die Probleme, die sich aus ihm ergaben, immer angestrengter die Mienen der Zuhörer. Der verschraubte Fragenkatalog ging so: Wenn wir nicht wissen können, dass das, was wir für wahr erachteten, auch wirklich wahr ist – woher sollen wir dann wissen, dass es nicht wahr ist? Wenn man also sagt: „Das ist nicht wirklich wahr“, dann heißt das, man geht davon aus, es gibt etwas, was wirklich wahr ist.

Die Studenten, die nicht gekommen waren, behielten Recht. All diese Fragen konnten nicht beantwortet werden. Man hätte höchstens Gefahr laufen können, nach der Vorlesung vor lauter Grübelei in der U-Bahn ganz lebendige Fahrkontrollen für nicht wirklich existent zu halten. Palm und Quitzow brachten ihren Dialog in die letzte entscheidende Phase. Wer hat Recht? Hat jemand Recht? Vielleicht die ältere Dame. Ziemlich cool warf sie ein, Erkenntnisse seien immer im Zustand der Veränderung begriffen – wozu dann das Relative so absolut hervorkehren. Oder die Studentin. Ihr fehle der „wahre Kern“. Ganz bestimmt aber die erschöpfte Besucherin. Sie schlug vor, einen Wein trinken zu gehen.

MATTHIAS ECHTERHAGEN