Löwenmann mit Eigenschaften

Umwege erhöhen das Lesevergnügen, und Liebesgeschichten waren schon immer die kompliziertesten Geschichten: Auch in seinem neuen Roman „Die vierte Hand“ geht der amerikanische Bestsellerautor John Irving verschwenderisch mit seinen Einfällen um, ohne den Überblick zu verlieren

von GERRIT BARTELS

Als John Irving vor über zwanzig Jahren mit seinem vierten Roman „Garp und wie er die Welt sah“ zum Bestsellerautor avancierte, antwortete er in einem Interview auf die Frage, was es bedeute, ein Romanschriftsteller zu sein: „Niemals etwas wegwerfen.“ Geradezu logisch, dass mit Fortdauer seines schriftstellerischen Wirkens Irvings Romane immer dicker wurden, seine Geschichten immer ausufernder, sein Figurenpersonal immer größer und auch eigenartiger, sein Erfolg aber nicht kleiner.

Dabei konnte man als Irving-Leser schon leicht mal den Überblick verlieren. Nicht nur, was die stetigen Veröffentlichungen anbetraf – gerade in Deutschland erschien nach „Garp“ fast jährlich ein Buch von John Irving –, sondern auch in den Büchern selbst. Romane wie zuletzt „Zirkuskind“ oder „Witwe für ein Jahr“ folgten verschlungenen Erzählwegen, waren bevölkert mit komischen, liebenswerten oder bemitleidenswerten Menschen, waren voller schöner Einfälle, fantastisch realistisch, manchmal aber auch sehr ermüdend. Da brauchte es Ausdauer, und da musste man jedes Mal auf ein Neues vertrauen darauf, einen Mehrwert jenseits gelungener Unterhaltung präsentiert zu bekommen, in dem leicht dahinfließenden Erzählstrom Irvings den Stoff zu finden, der aus dieser wundersamen Romanwelt zurück in die Wirklichkeit strahlt: Sex, Gewalt und Rock ’n’ Roll. Glaube, Liebe, Hoffnung. Oder noch Universelleres wie das Leben und der Tod.

Mit seinem neuem Roman „Die vierte Hand“ gibt sich John Irving vergleichsweise zurückhaltend: 430 Seiten zählt das Buch, wo es zuletzt mehrmals 900 Seiten sein mussten. Doch ist es Irving wieder einmal nicht daran gelegen, zielstrebig eine stringente Geschichte zu erzählen, gar hauszuhalten mit seinen Einfällen. Wieder geht er Umwege, entwirft er Zwischenspiele, erzählt er scheinbar ins Leere laufende Anekdoten, ganz nach der Devise: Schaun wir mal, was am Ende so herauskommt. Da reicht ein erster Satz, um sich alle Möglichkeiten aufzuhalten: „Stellen Sie sich einen Mann auf dem Weg zu einem knapp dreißigsekündigen Ereignis vor – dem Verlust seiner linken Hand, noch in jungen Jahren.“ Also stellen wir ihn uns vor, was schwer fällt angesichts des frühen Wissens um sein Schicksal, und also stellt ihn John Irving uns vor, diesen seinen Helden, einen blassen, charakterlosen, aber immerhin gut aussehenden Mann namens Patrick Wallingford. Zumindest eins ist ihm gegeben: Alle Frauen, denen er begegnet, wollen mit ihm schlafen (können sich danach aber oft nicht mehr an ihn erinnern). Angestellt bei einem Fernsehsender in New York, wird Wallingford für eine Zirkus-Reportage nach Indien geschickt, wo ihm vor laufender Kamera ein Zirkuslöwe die linke Hand abreißt. Dieses Ereignis macht ihn berühmt und zum „Löwenmann“, dieses Unglück führt dazu, dass aus dem phlegmatischen und ambitionslosen Wallingford ein Mann mit Eigenschaften wird.

Bevor sich das aber auch nur ansatzweise abzeichnet, braucht es die Lebensläufe einiger anderer Menschen, die Irving für seinen Roman mal mehr, mal weniger stimmig miteinander verknüpft. Etwa die des erfolgreichen, aber wenig lebenstüchtigen Handchirurgen Dr. Nicholas M. Zajac, der Wallingfords Handtransplantation vornehmen wird. Zajac spielt am liebsten zusammen mit seinem Sohn „Hundehaufenlacrosse“ und geht irgendwann mit seiner Haushälterin eine obskure Verbindung ein. Oder die von Otto und Doris Clausen. Nach einem Footballspiel, das er vor dem Fernseher seiner Stammkneipe verfolgt, nimmt Otto sich unfreiwillig das Leben. Daraufhin gibt Doris Ottos linke Hand zur Transplantation frei, lernt Wallingford kennen, weil sie ein Besuchsrecht für Ottos Hand einfordert, und bekommt ein Kind mit ihm. Dann sind da noch die Feministin Evelyn Arbuthnot, die Wallingford bei einem Kongress in Japan zur „Zukunft der Frau“ kennen lernt. Und die geheimnisvolle Sarah Williams, die nicht so heißt, eine Professorin für Englisch, die sie vielleicht gar nicht ist, mit der Wallingford sich gegenseitig aus E. B. Whites Kinderbüchern „Wilbur und Charlotte“ und „Klein Stuart“ vorliest.

Nicht jede dieser Episoden hilft dem „Löwenmann“ auf die Sprünge, nicht jede dient dazu, seinen Charakter schärfer werden zu lassen und seine Entwicklung zu einem verantwortungsvollen und sehr verliebten Menschen transparenter werden zu lassen. Da verspricht Irving mehr, als er halten kann, da lässt sich zum Beispiel nicht bestätigen, dass der „Kollisionskurs“ von Wallingford und Zajac, wie es unheilschwanger im zweiten Kapitel heißt, „von vornherein nichts Gutes ahnen ließ“. Auch die Medienkritik, die ununterbrochen im Subtext des Buchs mitläuft, wirkt bisweilen aufgesetzt moralinsauer und formelhaft: Das Hauen und Stechen in der Medienbranche, der Quotendruck, der Zirkus, der um den Tod des Kennedy-Sohns und seiner Frau gemacht wird.

Trotzdem bekommt Irving meist die Kurve, gilt in „Die vierte Hand“ wie auch in seinen anderen Romanen: Umwege erhöhen das Lesevergnügen, und Liebesgeschichten waren schon immer die kompliziertesten. Am Ende ist alles wie im Kino nach einem guten, herzerweichenden Film. Man muss sich zwicken und es braucht einige Minuten, um sich wieder zurechtzufinden in der rauen Wirklichkeit.

John Irving: „Die vierte Hand“. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl, Diogenes Verlag Zürich 2002, 440 Seiten, 22,90 €