Mann unter Zwang


Demnächst einmal zur Zuwanderung sprechen? Ja. Aber jetzt muss er zu einem Vortrag – über Zuwanderung

von RALPH BOLLMANN

Am Ende ist es doch noch passiert. Dabei hatten sich die drei Herren in schöner Eintracht nebeneinander gestellt. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, dass zwischen die drei obersten Zuwanderer der Union auch nur ein Blatt Papier passen könnte – weshalb auch der Kanzlerkandidat darauf bestanden hatte, dass der Chef der Zuwanderungskommission eigens aus dem Saarland herbeieilte, um die harte Gangart gegenüber Rot-Grün der Hauptstadtpresse zu verkünden.

Das hatte der auch getan und sich im Foyer des Berliner Konrad-Adenauer-Hauses brav zwischen die beiden anderen gestellt, um zu zeigen, dass sie beim Thema Zuwanderung alle auf einer Linie sind. Das dauert aber nur so lange, bis der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) eine plötzliche Eingebung hatte und so schnell zum Mikrofon eilte, dass er den saarländischen Ministerpräsidenten zwischen sich selbst und CDU-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach fast zerquetschte. Peter Müller konnte nichts anderes tun, als nach hinten auszuweichen. Einen Moment lang war er hinter den beiden Parteifreunden gar nicht mehr zu sehen, während Beckstein den Journalisten seine Eingebung diktierte: Die Grünen, erklärte er, strebten mit dem Zuwanderungsgesetz „eine völlig andere Gesellschaft“ an.

Die Szene vom vergangenen Donnerstag ist einigermaßen symptomatisch für die Lage, in die Peter Müller beim Thema Zuwanderung geraten ist. Die Chancen für eine Einigung stehen vor dem fraktionsübergreifenden Treffen am morgigen Mittwoch schlechter denn je (siehe unterer Kasten). Schon wittern die Liberalen die Chance, sich bei dem Thema gegenüber der Union zu profilieren. Offensichtlich, so mutmaßte der FDP-Politiker Rainer Brüderle, wolle sich Stoiber das Thema für den Wahlkampf warm halten – und Müller müsse „immer wieder zurückrudern“.

Bis jetzt hat es der Saarländer immerhin geschafft, seine Partei am Verhandlungstisch zu halten – auch wenn einflussreiche CSU-Größen wie der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer schon mal einen Versuchsballon aufsteigen ließen und den Abbruch der Gespräche forderten. Viermal hat er mit Innenminister Otto Schily über den Gesetzentwurf verhandelt – zweimal unter vier Augen in Berlin, zweimal im Beisein von Beckstein in bayerischen Klöstern. Und immer litten diese Gespräche, bei denen sich die Beteiligten schnell einig waren, unter zwei Schönheitsfehlern: Schily hatte für seine Vorschläge nicht das Plazet der Grünen, und Müller sondierte ohne ein offizielles Mandat der Union.

Doch Müller gibt die Hoffnung nicht auf. Auch nicht, nachdem er in Berlin mit den Kollegen Beckstein und Bosbach die Blockade ausgerufen hat. Er weiß um die Zwänge der Wahlkampfzeit, in der die Union nicht auf liberale Positionen setzt. Auf dem Rückflug ins Saarland sagt Müller gleichwohl geradezu beschwörend, eine Einigung liege „im Interesse aller Beteiligten“.

Vor allem liegt sie in seinem eigenen Interesse: Das Wort „Zuwanderung“ ist mit keinem Unionspolitiker so eng verknüpft wie mit ihm, seit er vor anderthalb Jahren den Vorsitz der CDU-Zuwanderungskommission übernahm – und einer Partei, die im Strudel der Spendenaffäre nach programmatischer Neuorientierung suchte, in Rekordzeit das Bekenntnis zum Einwanderungsland Deutschland abrang.

Vor zehn Monaten stellte Müller den Kommissionsbericht, den er im Mallorca-Urlaub eigenhändig getippt hatte, öffentlich vor. Spätestens seitdem gilt er in der Bundespartei als profiliertester Exponent des liberalen Flügels, als Gegenpol zu Roland Koch, der mit seiner Unterschriftenaktion gegen den Doppelpass in Hessen an die Macht kam.

Müller hat freilich das heimische Saarland schon seit seinem Wahlsieg im Herbst 1999 zum liberalen CDU-Musterland geformt. So berief er den in der CDU oft rebellierenden Michel Friedman zum Kulturberater, den Landesvorsitzenden des Bundes für Umwelt und Naturschutz machte er gleich zum Umweltminister. Wie man das Wechselspiel von saarländischer Identität und einem schillernden bundespolitischem Profil betreibt, hat der 46-Jährige sich von seinem Vorvorgänger abgeschaut – so sehr, dass es an der Saar schon heißt: „Der macht’s wie der Oskar.“

Kaum ist er nach der Berliner Pressekonferenz auf dem Weg zum Flughafen, da telefoniert er mit dem Korrespondenten der Saarbrücker Zeitung. Kaum ist er in Saarbrücken gelandet, lässt er sich ins Parlament fahren – zur Geburtstagsfeier des Landtagsdirektors. Gratuliert dem Jubilar, trinkt ein Bier, hält einen Plausch mit einem Abgeordneten der SPD. Dabei bedient er sich jenes saarländischen Idioms, an dem Klaus Töpfer, sein Vorgänger als CDU-Landesvorsitzender, einst gescheitert war.

Beim nächsten Termin in der Staatskanzlei wartet der „Kohlebischof“. Aus Essen ist der katholische Geistliche angereist, um an der Saar die Solidarität der Kohleländer einzufordern. „Tja“, sagt Müller nur, hört sich die Wünsche freundlich an und erläutert nicht minder freundlich, warum er aus dem Bergbau aussteigen will. Dann lehnt er sich wieder zurück, räkelt sich im Sessel, legt den Finger an die Stupsnase und grinst: „Das ist der Stand der Dinge.“ Dann kommt das Gespräch auf den neuen Trierer Bischof, der, wie Müller bemerkt, „bezeichnenderweise Marx heißt“. Der Gast aus Essen schaut ein wenig irritiert – aber als Müllers meckerndes Lachen gar nicht mehr verstummen will, stimmt er schließlich ein.

Ach ja, eine Bitte hat der Bischof noch: Wie wäre es mit einem Vortrag zum Thema Zuwanderung in seinem Bistum? Kein Problem, wird gemacht. Aber jetzt hat der Ministerpräsident keine Zeit mehr. In einer guten Stunde muss er in Ludwigshafen sein, einen Vortrag über Zuwanderung halten. Natürlich. Eingeladen hat die Vorsitzende der Frauen-Union, die in Helmut Kohls ehemaligem Wahlkreis kandidiert.

Im Strudel der Spendenaffäre rang er der CDU das Bekenntnis zum Einwanderungsland ab

Sooft sich Müller auch mit anderen Themen beschäftigt, Eichels Pläne zu den Länderfinanzen kritisiert, eine Rücknahme des NPD-Verbotsantrags verlangt, die saarländische Kohlepolitik erörtert – die Zuwanderungspolitik will ihn in diesen Tagen einfach nicht loslassen. Seine Gedanken kreisen um das Thema. Auf einem Empfang für den saarländischen Unternehmerpräsidenten wird dieser von Müllers Vorredner zum echten Saarländer erklärt. Obwohl der Unternehmer aus Essen kommt. Der Ministerpräsident spielt auf den Fehler an, sagt, dass „erfolgreich gestaltete Integration zur Bereicherung eines Landes führen kann“.

Müller vergisst sein Steckenpferd erst recht nicht, als er der deutsch-französischen Handelskammer in Saarbrücken einen Besuch abstattet. „Bis Sie eingebürgert werden“, sagt er dem Generaldirektor der Kammer, „müssen Sie noch zehn Jahre draufsatteln.“ Er ist einer von 50.000 Franzosen, die im Saarland arbeiten – weshalb die Kammer, die für ganz Deutschland zuständig ist, keineswegs über einen Umzug in die Hauptstadt nachdenkt. „Berlin ist ja das deutsche Brasília“, erklärt der Direktor: „Für unsere Mittelständler haben wir dort kaum was zu tun.“

Und wie ist das mit Müller? Wie hält er es mit der Hauptstadt? Bis zur nächsten Landtagswahl im Herbst 2004, hat er auf dem Flug von Saarbrücken nach Berlin gesagt, stehe er bei seinen Saarländern im Wort. Deshalb wird er auch dem Schattenkabinett nicht angehören, das Stoiber jetzt zusammenstellt. Aber für 2006? Als Müller im Dezember seine Präferenz für einen bayerischen Kanzlerkandidaten zu erkennen gab, da schien die Sache für viele schon klar: Diesmal soll ein rechter Flügelmann verbrannt werden, damit bei der nächsten Wahl die Bahn frei ist für einen liberalen Bewerber. „Quatsch“ sei das, sagtMüller, solche „Winkelzüge über einen Zeitraum von acht Jahren“ zu planen.

Derzeit ist auch er Wahlkämpfer für Stoiber. Beim politischen Aschermittwoch stimmt er die saarländischen Parteifreunde im girlandengeschmückten Saalbau von Schwalbach auf das Wahljahr ein. Wieder spricht er ausführlich über – das Zuwanderungsgesetz. Statt der 91 Änderungsanträge der Bundestagsfraktion, statt der 16 Punkte umfassenden Wunschliste seines Parteifreundes Bosbach beschränkt er sich allerdings auf 5 Änderungswünsche.

Am nächsten Tag, auf dem Weg nach Berlin, erklärt er dann, „Begrenzung“ müsse in seinem Verständnis nicht unbedingt weniger Zuwanderung bedeutung, die Diskussion um genaue Zahlen sei eine „Gespensterdebatte“. Als er im Foyer des Adenauer-Hauses steht, muss er sich anhören, wie Beckstein davon spricht, im vergangenen Jahr habe es 647.000 Zuwanderer gegeben. Begrenzung, das bedeute eben „647.000 minus x“. Ist sich die Union eben doch nicht so einig, wie Müller immer tut? „Da hat er sich vergaloppiert“, sagt der Ministerpräsident nachher milde. Und schließlich habe Beckstein seinen Satz ja halb zurückgenommen und hinterhergeschoben, es dürften jedenfalls nicht 500.000 mehr sein. Müller gibt die Hoffnung eben nicht auf.