Hinterm Mückenschwarm

■ Der Osterchorsteinway präsentiert den weitgehend unbekannten Komponisten Théodore Gouvy / Die taz sprach mit dem Dirigenten Manfred Seidl über einen Spaziergang, Gnade, Zorn und Mücken

Wer war Théodore Gouvy, 1819 in Goffontaine bei Saarbrücken geboren und 1898 in Leipzig gestorben? Niemand scheint ihn zu kennen, und das maßgebliche Lexikon „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ widmet ihm einige lieblose Zeilen mit dem Vermerk, er habe deswegen keinen Erfolg gehabt, weil er zu schnell komponieren konnte. Warum wir das hier erzählen? Weil am Freitag vom Osterchorsteinway Gouvys „Requiem“ für großes Orchester, SolistInnen und Chor aufgeführt wird, mit Sicherheit die erste Aufführung in Norddeutschland. Der Dirigent Manfred Seidl berichtet über seinen Fund.

taz: Herr Seidl, wie und wo stießen Sie auf Gouvy?

Manfred Seidl: Wir gingen in Straßburg spazieren und hörten aus einer Kirche wunderbare, faszinierende Chorklänge, so schön, ich dachte, so was habe ich noch nie gehört. Die Nachfrage ergab, es handelte sich um eine Probe eines Requiems von Théodore Gouvy. Wir könnten ja morgen in die Aufführung kommen, was wir auch taten. So fing es an. Ich habe dann herausbekommen, dass es seit 1995 ein kleines Théodore-Gouvy-Institut in Hombourg-Haut gibt, die das Erbe des französischen Komponisten pflegt.

Sind Aufführungen dokumentiert?

In diesem Jahrhundert drei in Frankfurt, Freiburg und Saarbrücken. Für Norddeutschland bieten wir die Erstaufführung.

Im neunzehnten Jahrhundert wurden bedeutende Requiems nach Mozart geschrieben: Das protestantisch-tröstende von Brahms, das visionäre von Hector Berlioz, das dramatisch-irdische – so darf es man vielleicht verkürzt nennen – von Verdi. Was macht Gouvy?

Er benutzt den katholischen Messtext und entwirft als Basis die großen Gegensätze des Textes: Der Tag des Gerichts und die Bitte um Gnade. Es ist nicht so wild wie Verdi, bei dem man ja das jüngste Gericht regelrecht sieht. Gouvy ist sehr viel weicher. Also ich finde die Musik total schön, eingängig, träumerisch. Und auch noch, nachdem wir das Werk ein halbes Jahr geprobt haben.

Verdis Requiem stammt ja aus demselben Jahr, 1874 wurde es uraufgeführt.

Es gibt von der Konzeption her verblüffende Parallelen, wir sprachen ja gerade schon über den Gegensatz Zorn und Gnade, aber Gouvy kann Verdi gar nicht gekannt haben.

Tschaikowsky meinte, Gouvys Musik entbehre nicht „einer gewissen Feindlichkeit gegen sein Vaterland“. Was glauben Sie, meint er damit?

Also es scheint so gewesen zu sein: Gouvy hielt sich viel in Deutschland auf, er fand die Deutschen, besonders Wagner, gut und er schreibt ausgesprochen deutsch. Vielleicht wurde er deswegen nach seinem Tod sofort vergessen: Weder die Franzosen noch die Deutschen zählten ihn zu den Ihren. Wobei das politische Klima nach dem deutsch-französischen Krieg auch noch eine Rolle gespielt haben dürfte.

Ist er zu Unrecht vergessen? Immerhin hinterließ er 160 vollendete Kompositionen, darunter neun Sinfonien.

Ja. Ich finde seine Musik viel besser als die viel gespielte von Engelbert Humperdinck zum Beispiel. Da gibt es ja ein interessantes Urteil von Hector Berlioz, ich zitiere es: „Dass ein Musiker vom Range des Herrn Gouvy in Paris noch so wenig bekannt ist, während Schwärme von Mücken das Publikum mit ihrem aufdringlichen Gesumm belästigen, muss schlichte Gemüter, die noch an Sinn, Verstand und Gerechtigkeit unserer musikalischen Sitten glauben, verwirren und erregen.“

Es ist ja nicht zum ersten Mal, dass Sie und der Osterchorsteinway sozusagen nie zu hörende Werke aufführen. Wie finden Sie das eigentlich alles?

Ich bin einfach aufmerksam, systematisch suche ich so etwas nicht. Als nächstes Projekt machen wir die „Cantates pour la vie“ von Michael Letz, die Texte von Zwangsarbeitern in den Bunkern verarbeiten.

Die Fragen stellte Ute Schalz-Laurenze

Die Aufführung findet am Freitag, den 22. Februar, um 20 Uhr in der Kirche Unser Lieben Frauenstatt.