utah und andere
: Olympische Einsamkeit

Surrogatextrakt

Olympia ist ein einsames Geschäft. Sammeln sich bei der Fußball-WM noch Leidensgenossen zu TV-Gemeinschaften, guckt ab und an sogar die Freundin ein Spielchen mit, verbringt man die Abende dieser Tage allein. Die Töchter werden einem immer fremder, Freunde schütteln mitleidig den Kopf. Man selbst lebt fortan mit französischen Freestylern und kanadischen Curlern als Familienersatz. Sie wachsen einem alle ans Herz. Die Snowboarder mit ihren peinlichen Elefantenhosen erinnern einen an die Pubertierende im eigenen Haushalt. Beide verbindet ein tapferer Trotz. So wie bei der einen nur die Lehrer an den schlechten Noten schuld sind, jubeln die anderen stets vollkommen enthemmt, als könnten sie damit die Jury davon ablenken, dass sie gerade auf der Nase die Halfpipe runtergerutscht sind.

Vielleicht ist Olympia ja auch familiäre Auszeit. Eine Kur, die man alle zwei Jahre beantragen kann. Man lernt wildfremde Menschen sehr gut kennen und beginnt sogar heimlich Fernsehreporter vertraut beim Vornamen zu nennen. Wortlos begrüßt man Lampert oder Bruno mit einem kleinen Kopfnicken, sagt leise „Hallo Marianne“, weil sonst ja keiner mehr mit einem redet, und fragt sich, wer denn nun zu Hause beim Bayerischen Rundfunk noch Fernsehen macht. Wahrscheinlich senden sie „ZEN – Zuschauen, Entspannen, Nachdenken“ in Endlosschleife. Solchen Gedanken hängt man nach, und selbst Waldemar Hartmann scheint plötzlich – so einsam, wie man ist – kein wirklich schlechter Mensch mehr zu sein. Einmal, sehr früh am Morgen, da hat Waldi sogar einen Witz gemacht über seinen Bart, der ja nicht mehr da ist, der Bart. Da musste man lachen. Das ist komisch, dachte man so bei sich. Ganz selten geht mal die Zimmertür auf und eine Tochter guckt rein. Sieht einen Mann, den sie mal sehr gut kannte, mit flackerndem Blick, der Leuten in obszön eng anliegender Bekleidung beim Rumtollen im Schnee zusieht. Was das wohl anrichten mag in einer zarten Kinderseele. Damit beschäftige ich mich, wenn das olympische Feuer in mir erloschen ist. THOMAS WINKLER