Wo Thüringen sein Haus hat

Der Freistaat holt bei den Olympischen Winterspielen Medaillen sonder Zahl und sorgt mit kulinarischen Höhepunkten (Rostbratwurst) schon traditionell für landsmannschaftliche Heimeligkeit

aus Salt Lake City MARTIN HÄGELE

„Thüringen schürft Gold“ titeln die Zeitungen im Freistaate, der vorm Medaillenspiegel mit zwölf Plaketten bestens dasteht. Ackermann, Luck, Henkel, Otto sind die Athleten, die ihren Sport in Oberhof betreiben, auf gut 800 Meter Seehöhe im Thüringer Wald. Gestern gewann eine weitere, Susi Erdmann, Bronze im Bob. Doch das sind nicht die einzigen Exportschlager. Die Wurst ist es vielmehr, in Amerika „Sausage“ geheißen. Sie, die Wurst (Foto: Archiv), gibt den Athleten aus Steinbach-Hallenberg oder Großbreitenbach kalorienhaltigen Begleitschutz im fremden Land der Mormonen. Daheim in Deutschland wäre der Geschmackstest ja ein kleiner Glaubenskrieg: Schmeckt diese Wurst nun wie in Erfurt und Oberhof oder doch mehr nach Fürth und Nürnberg?

In der Weite von Salt Lake City sind diese kleinen landsmannschaftlichen Nuancen absolut egal, die Wurst heißt „Thüringer Haus“, genauso wie die Wirtschaft auch. Und die Amis verputzen sie in riesigen Mengen. Wobei sich das Gros der Kundschaft, die tagsüber die gastronomische Ausstellung des Freistaats besucht, aus jenen 20.000 Deutschstämmigen rekrutiert, deren Vorfahren irgendwann im vorigen Jahrhundert in der Gegend um die Mormonen-Metropole angekommen sind. Einer von ihnen, Siegfried Meyer, dem in Salt Lake City „Meyers Delikatessen“ gehören, ist 1958 aus Mecklenburg-Vorpommern ausgewandert. Zum Glück für ihn, aber auch zum Wohle der Delegation aus der alten Heimat hat Meyer Schlachter gelernt. Für ihn war es also keine große Umstellung, den Catering-Service zu liefern – vor allem nachdem er sich mit jeder Menge Rezepte eingedeckt und auf einer Probierreise im Land seiner Väter meterweise Würste getestet hatte. Ob Thüringer Klöße, Rouladen, Enten oder eben jede Menge Würste. Meyer hat’s.

Die Geschichte mit der Thüringen-Fressmesse bei Olympischen Spielen besitzt Tradition. Es begann mit einem Zelt in Lillehammer, das an manchen Tagen zur größten Bierschwemme Norwegens wurde, und setzte sich, schon etwas kultivierter, in Nagano fort. Das rustikale Interieur lockte selbst Vertreter des europäischen Hochadels an. Gut zehn Jahre nach der Wende konnten König Harald von Norwegen und Prinz Albert von Monaco im fernen Japan noch einmal ein Zerrbild der Demokratischen Deutschen Republik erleben. Hinter einem weißen Vorhang erstreckte es sich auf 300 Quadratmeter. Damals passierte es häufiger, dass Gespräche abrupt endeten, nachdem das Gegenüber auf den Akkreditierungen, die jedermann bei Olympia um den Hals trägt, scheinbar feindliche Begriffe wie „Stuttgart“ „Hamburg“ oder „München“ entdeckt hatte.

Mit einem weiteren olympischen Vierjahresabstand ist diese Veranstaltung ein Stück mehr gesamtdeutsch und das Thüringer Haus ein offenes Haus geworden. Die ehemalige Lagerhalle, vor zehn Jahren renoviert und mittlerweile ein bekanntes Auktionshaus, bietet Platz für 360 Gäste, eine große Biertheke, die Bühne für die Folkloreband „acoustica“ und zwei heimische Stände. Für die landwirtschaftlichen Produkte wirbt Gunda Niemann-Stirnemann. Mit Schwangerschaftsbäuchlein spielt Erfurts Vorzeigeathletin erst recht die Thüringer Musterhausfrau. Daneben will die Thüringer Tourismus GmbH Ausflüge, so genannte „Goethe packages“, verkaufen oder die Tour „Johann Sebastian Bach in Thuringia“, beides im Verbund mit Ausflügen auf Luthers Wartburg (Eisenach) oder ins Museum von Carl Zeiss (Jena). An den Namen großer Deutscher fehlt es jedenfalls nicht in den Katalogen. Ob die nun Dichter oder Denker, Komponist oder Erfinder, Reformator oder Bobfahrer waren.

Die Aushängeschilder des modernen Thüringens sind weniger mit dem geistigen Flug ihrer Gedanken berühmt geworden als vielmehr auf Eis-Ovalen, in Rodel-Rinnen, auf Skischanzen oder in Loipen mit dem Gewehr auf dem Rücken. „Wir wollen dieses Land bekannt machen: Essen, Trinken, Landschaft, Menschen, vor allem aber den Sport“, sagt Peter Müller, der Referent für internationale Arbeit beim Landessportbund Thüringen. Er hat zusammen mit seinem Chef, dem ehemaligen Hochsprung-Europameister Rolf Beilschmidt, die Organisation übernommen.

Er muss sich nicht nur einmal am Tag fragen lassen, was das denn alles bringt. Denn 450.000 Euro Miete für drei Wochen sind zu zahlen und obendrein gehen viele Hektoliter vom dunklen Köstritzer Bier und tonnenweise Bratwürste weg. Wenn sie nicht dazuzahlen müssten wie bei den vergangenen Thüringen-Präsentationen, wäre das eine gute Sache, meint Müller. Der Erfolg solcher Veranstaltungen lässt sich nur schwer in Zahlen ausdrücken. Die Tourismus GmbH hat in den vergangenen Jahren einen deutlichen Anstieg japanischer Gäste registriert. Aber daran, dass nun aus dem Skiparadies um Salt Lake City, wo der Pulverschnee Champagner-Puder heißt, die Leute urplötzlich nach Zella-Mehlis oder Oberhof reisen, um dort Wintersport zu erleben, mag und kann auch Müller nicht glauben.

Das Thüringen-Haus ist und bleibt nicht mehr und nicht weniger als eine sympathische Werbung für Deutschlands Wintersportregion Nummer eins. So sieht man es in Erfurt und Jena. Weshalb auch die Thüringer Allgemeine einen eigenen lokalpatriotischen Medaillenspiegel druckt. Nach 53 von 78 Entscheidungen offenbart die Rechnerei: Thüringen liegt international auf Platz fünf, vor Frankreich, hinter Russland. Die meisten Beobachter tun diesen Chauvinismus augenzwinkernd und teils belustigt ab. Müller hat trotzdem in einem Interview mit einem heimatlichen Radiosender die Prognose abgegeben: „Nachdem wir in Nagano zehn Medaillen geholt haben, könnten wir hier zwölf gewinnen.“ Das haben die Thüringer längst. Darauf eine deftige Rostbratwurst vom Holzkohlegrill.