Seifenoper ohne Happy End

Amerikas liebste Bobfahrerin Jean Racine muss beim olympischen Rennen mit dem fünften Rang vorliebnehmen, dafür gewinnt USA II vor den deutschen Bobs mit Sandra Prokoff und Susi Erdmann

aus Park City MATTI LIESKE

Einige Minuten lang muss sich Jean Racine im Ziel des Zweierbobrennens vorgekommen sein, als befände sie sich an einem mittelalterlichen Pranger. Ganz alleine stand sie an der Wand, vor der die jeweils Führenden postiert werden, damit die Fernsehkameras auch die kleinste ihrer Regungen bei den Läufen der Konkurrenz festhalten können. Ihre Anschieberin Gea Johnson konnte ihr nicht Gesellschaft leisten, da die bereits vorher vorhandene Zerrung der Achillessehne sich im Laufe des Wettkampfes so verschlimmert hatte, dass sie die Bahn nur hinkend und mit fremder Hilfe verlassen konnte. Jean Racine wusste, dass ihr Rennen längst nicht zur ersehnten Medaille reichen würde, und blickte so betreten drein, als erwarte sie, gleich mit Tomaten beworfen zu werden. Dann wurde die US-Amerikanerin endlich erlöst, als der Bob aus der Schweiz sich an die Spitze setzte und die beiden Insassinnen ihren Platz an der Wand einnahmen. Es war dies das Ende einer Soap Opera, die vor den Spielen das ganze Land bewegt hatte wie kaum eine andere olympische Geschichte.

Danach kehrte gute Laune ein am Fuße der Bobbahn. Alle, die nach den Schweizerinnen kamen, waren Medaillengewinnerinnen und dementsprechend begeistert. Zuerst rutschte Susi Erdmann, die Weltcupsiegerin, mit ihrer für Olympia von Sandra Prokoff ausgeliehenen Anschieberin Nicole Herschmann ins Ziel. Die sehr kurze Bahn im Olympic Park war ihre Sache nicht, da sie die starken Starter bevorteilt und den versierten Pilotinnen wie Erdmann kaum Zeit lässt, ihre Stärke auszuspielen – weshalb viele das Rennen auch als den „größten Leichtathletikwettkampf der Winterspiele“ bezeichneten. Als exzellente Starterin hoch favorisiert war daher die erheblich kräftigere Sandra Prokoff mit Ulrike Holzner, die den Erdmann-Bob auch prompt von der Spitze verdrängte. Dann aber kam die große Überraschung: USA II, „der vergessene Bob“, wie Anschieberin Vonetta Flowers ihr Team mit Jill Bakken an den Lenkseilen betitelte. Schon im ersten Lauf mit Bestzeit, ließen sich die beiden nicht mehr von den deutschen Damen verdrängen. Und kaum waren sie unten, hub ein großes Herzen und Küssen an. Dazwischen bewegte sich etwas verloren Jean Racine und gratulierte tapfer den Konkurrentinnen.

Eigentlich hätte dies der Tag der 23-Jährigen werden sollen, die diesen Sport seit Jahren dominierte und propagierte, in zahlreichen Werbespots und Annoncen auftaucht und in Utah sogar eine Autorin dabei hat, die ein Buch über ihre olympischen Abenteuer schreibt. (Ob es auch ohne das erwartete Happy End herauskommen wird, bleibt abzuwarten.) Von 1999 bis 2001 hatte Jean Racine mit ihrer besten Freundin Jen Richardson als Anschieberin 23 Rennen in Folge und jeweils den Weltcup gewonnen. Als es in diesem Winter jedoch nicht lief und sie bei einem Rennen im österreichischen Igls mit dem 11. Rang die schlechteste Platzierung ihrer Karriere hinnehmen musste, beschloss sie zu handeln – und ersetzte Richardson durch die ehemalige Siebenkämpferin Gea Johnson, deren Leichtathletikkarriere 1994 endete, als sie wegen Dopings gesperrt wurde.

Der Bobsport ist die einzige Disziplin, wo die Teams nicht von Trainern, sondern vom Boss, also dem Piloten, zusammengestellt werden. Das bringt harte persönliche Entscheidungen mit sich. Vor vier Jahren in Nagano warf Christoph Langen seinen besten Freund aus dem Vierer, wurde zwar Olympiasieger, musste sich aber, auch von dem Betroffenen, Unmenschlichkeit vorwerfen lassen. Ähnlich reagierte Jen Richardson. Sie kündigte Jean Racine die Freundschaft, rief ein Schiedsgericht an, verlor jedoch und war in Park City nur als Vorläuferin dabei, was Stoff für viele Zeitungsgeschichten im Vorfeld von Olympia bot.

Für die 34-jährige Gea Johnson bedeutete die Sache hingegen die Chance ihres Lebens, die sie auch nicht aufgeben wollte, als sie sich wenige Tage vor dem Wettkampf verletzte. Ohnehin scheute Jean Racine einen weiteren Wechsel. „Sie ist mein Mädchen, wir ziehen das durch“, erklärte Racine, obwohl klar war, dass ohne eine hundertprozentig fitte Anschieberin auf dieser Bahn nichts zu holen sein würde. Und tatsächlich hatte ihr Bob die schlechtesten Startzeiten aller Teilnehmerinnen, damit Fünfter zu werden zeigt die Fahrkunst der Pilotin Racine.

Den Vorwurf, erst die Freundschaft dem Erfolg und dann den Erfolg der Freundschaft geopfert zu haben, wies Jean Racine zurück. Sie habe die Entscheidungen getroffen, die sie für richtig hielt. Gea Johnson sei selbst leicht verletzt immer noch die beste verfügbare Anschieberin gewesen. Das Problem war bloß, dass die Verletzung nach dem ersten Sprintschritt nicht mehr leicht war. „Hieran werde ich noch lange denken“, sagte Jean Racine, „denn Olympia ist ja erst wieder in vier Jahren.“

Das Drama von USA I war das Glück von USA II. „Wir haben uns aus den Seifenopern herausgehalten“, erklärte Vonetta Flowers spitz, „auf uns lastete überhaupt kein Druck.“ Dabei hatte auch Jill Bakken ihre langjährige Partnerin Shauna Rohback ausgemustert und nach einem internen Test durch die Leichtathletin Flowers ersetzt. Die 24-Jährige Bakken ist seit der Gründung 1994 im Bobteam der USA dabei, hatte sich mit einem ganzen Bündel schwerer Verletzungen herumzuschlagen und erst zwei Weltcuprennen gewonnen. Diese Saison sei nicht schlecht gelaufen, sagte sie, „aber für Olympia musste noch etwas draufgepackt werden“. Daher der Partnerinnentausch, der ihre Startzeit drastisch verbesserte. Doch im Gegensatz zu Jen Richardson akzeptierte Shauna Rohback die Entscheidung, blieb im Team, wo sie sich um die Kufen kümmerte, und wird wohl künftig wieder mit Jill Bakken fahren. Vonetta Flowers dagegen, erste afroamerikanische Gewinnerin einer Goldmedaille bei Winterspielen, will sich wieder vom Bobsport zurückziehen und „eine Familie gründen“, nachdem sie ihr großes Ziel erreicht hat, wenigstens in etwa: „Ich wollte eigentlich immer zu den Sommerspielen, aber Gott hatte scheinbar andere Pläne mit mir.“