Traktor gewinnt an Fahrt

Nach dem 2:1 im Viertelfinale gegen Finnland glauben Wayne Gretzkys Kanadier wieder daran, erstmals seit 50 Jahren Gold holen zu können. Davor wartet heute Favoritenkiller Weißrussland

aus Salt Lake City MATTI LIESKE

Die Nerven von Wayne Gretzky sind zur Zeit nicht die besten. Der Mann, der in seiner aktiven Zeit auf dem Eis selbst in den kniffligsten Situationen die Ruhe selbst blieb, saß in seiner Loge im E-Center, blickte immer wieder hektisch auf die Uhr, welche die verrinnenden Sekunden des Eishockeymatches Kanada gegen Finnland anzeigte und sah so besorgt aus, als würde ihn jemand mit einer Pistole bedrohen. Mit 2:1 führte das kanadische Team, dessen Manager er ist, kurz vor Schluss, doch die Finnen berannten mit Macht das Tor von Martin Brodeur, und die Seinen schafften es kaum, den Puck aus ihrem Drittel zu befördern. In Gretzkys Gesicht war unschwer zu erkennen, welche bösen Erinnerungen in ihm wach wurden: Erinnerungen an den Tag vor vier Jahren in Nagano, als er noch Kapitän eines der besten Eishockeyteams, die je bei Olympia spielten, gewesen war und ebenfalls tatenlos zusehen musste, wie seine für den Shootout ausgewählten Kollegen im Halbfinale gegen Tschechien an Keeper Dominik Hasek scheiterten und die hochfliegenden Hoffnungen einer ganzen Nation enttäuschten.

Damit eine derartige Schmach nicht noch einmal vorkommt und nach 50 Jahren Flaute endlich wieder eine Eishockeygoldmedaille nach Kanada geht, hat man Wayne Gretzky, „The Great One“, zum Teamchef gemacht und Pat Quinn, den renommierten Trainer der Toronto Maple Leafs, zum Coach. Für diesmal kamen beide mit dem Schrecken davon. Finnland traf nicht mehr, und Kanada spielt heute im Halbfinale gegen Weißrussland, das eine der größten Sensationen dieser Winterspiele schaffte und mit dem 4:3 gegen Schweden das dominierende Team der Zwischenrunde aus dem Turnier warf. Im anderen Halbfinale stehen sich exakt am selben Datum, an dem vor 22 Jahren in Lake Placid das „Miracle on Ice“, der Sieg der Collegeboys gegen die übermächtige Sbornaja, vonstatten ging, Russland und die USA gegenüber. Letztere ließen, durch das schwedische Beispiel gewarnt, gegen Deutschland, nichts anbrennen und gewannen 5:0, die Russen setzten sich mit 1:0 gegen Tschechien durch.

Die Kanadier hätten mit etwas mehr Treffsicherheit ihrem Manager Gretzky einigen Kummer ersparen können, denn sie boten ihre bisher stärkste Leistung, setzten die Finnen in den ersten zwei Dritteln permanent unter Druck und schossen praktisch pausenlos auf deren Tor. „Wir werden von Spiel zu Spiel besser“, freute sich Stürmer Steve Yzerman, der nach wunderbarem Pass von Mario Lemieux den Siegtreffer erzielte. Langsam glauben nicht nur die Kanadier selbst wieder daran, dass sie in Salt Lake City Gold gewinnen können, nachdem sie mit ihren ersten Spielen vor allem beißenden Spott geerntet hatten. „Wie ein alter Traktor“ laufe Lemieux über das Eis, hatte der ehemalige schwedische Trainer Curre Lindmark gehöhnt. So ätzend war die Kritik, dass Gretzkys schwaches Nervenkostüm nicht standhielt und er nach dem 3:3 gegen Tschechien geradezu McBerti-artige Tiraden abließ. „Niemand will, dass wir gewinnen, die anderen Länder hassen uns“, zeterte er und forderte: „Wir müssen dasselbe Gefühl für sie entwickeln.“ Torhüter Brodeur dämpfte dagegen die Emotionen: „Wir sind nicht hier, um Krieg gegen andere Nationen zu führen, sondern um Gold zu gewinnen.“

Die Kanadier hatten einige Erklärungen für ihren schwachen Start mit dem blamablen 1:5 gegen Schweden und dem wackligen 3:2 gegen Deutschland: Nur ein gemeinsames Training, die im Vergleich zur NHL größere Eisfläche, die fehlende rote Abseitslinie. Dumm nur, dass die USA die gleichen Voraussetzungen hatten, „und die sind hier durch spaziert“, räumte Pat Quinn ein. „Wir waren zu wenig aggressiv in der Defensive, haben zu sehr abgewartet, deshalb waren überall Löcher. Wir waren ein Schweizer Käse“, erläuterte der Coach. Gegen die Finnen spielten die Kanadier zwar immer noch ihr körperbetontes Hurra-Eishockey, passten sich aber auch öfter mal in der Defensive den Puck zu. „Wir finden langsam raus, wie wir die Vorteile der nordamerikanischen Spieler gegenüber den Europäern, das Powereishockey, am besten nutzen können“, so Quinn.

Das größte Problem für Kanada ist jedoch dem Coach zufolge ein anderes: „Die Erwartungen eines Landes, das nur Gold akzeptiert.“ Das sei bereits in Nagano der psychische Knackpunkt gewesen, intensive Gespräche sollen diesmal eine Wiederholung des Dilemmas verhindern: „Wenn du die Angst nicht kontrollieren kannst, verlierst du die Konzentration und kannst nicht mehr die Dinge tun, die nötig sind, um zu gewinnen.“ Jeder fange dann an, nur noch für sich selbst zu spielen. Pat Quinn nennt das bündig „Rette-deinen-Arsch-Syndrom“.

Trösten können sich die Kanadier immerhin damit, dass es diesmal eine Mannschaft gibt, auf der ein noch höherer Druck lastet: die USA, von denen nichts weniger als eine Wiederholung des Wunders auf Eis erwartet wird. Heute wie damals heißt der Coach Herb Brooks, dem die historische Dimension überhaupt nicht passt. „Ich sehe keine Parallelen und glaube auch nicht an Schicksal“, sagt der Wundermann und liefert seine Definition von Eishockey gleich mit: „Erwachsene Männer betreiben einen Sport für kleine Jungs.“ In Kanada würde er für einen solchen Satz an den nächsten Grizzlybär verfüttert.