Erinnerung statt Politik

Lange Jahre haben die Verbände der Vertriebenen deren Opfergeschichte vereinnahmt. Nun geben ausgerechnet linke Intellektuelle ihnen das Recht auf ihre Biografie zurück

Die Vertriebenenverbände ignorieren die Vorgeschichte der Vertreibungen: die Okkupation Osteuropas

Vergiss es! Diese ironisch gemeinte Aufforderung zum Verzicht ist leichter geraten als befolgt. Denn das Vergessen funktioniert nicht nach dem Prinzip der Löschtaste, ist nicht das Produkt eines Willensentscheids. Die Psyche hat ein Wörtchen mitzureden. Vergessen und Erinnern gehören zusammen, das eine ist nicht möglich ohne das andere. Dass es für unsere Orientierung unabdingbar ist, sich zu erinnern, bedarf keiner großen Erörterung. Nichts ist aussichtsloser als der Versuch, sich unter dem Banner „Wir müssen in die Zukunft blicken“ von der Last der Vergangenheit zu befreien. Sie vergeht nicht. Wie die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden in den Sechzigerjahren, obwohl sie zwei Jahrzehnte lang „beschwiegen“ worden war. Aber ist damit alles über den möglichen Nutzen des Vergessens gesagt?

1992 wurde Milan Panić, amerikanischer Multimillionär jugoslawischer Abkunft und kurzzeitig Ministerpräsident Restjugoslawiens, auf einer Tagung in London befragt, was er denn tun wolle, um die Bürger seines Landes aus der wahnhaften Fixierung an die serbische Nationalgeschichte zu befreien. „Ganz einfach“, antwortete der Remigrant, „wenn ich könnte, würde ich den Geschichtsunterricht an allen Schulen des Landes verbieten.“ Diese Aufforderung zum organisierten historischen Vergessen brachte Panić nicht gerade viele Freunde ein. Denn die Dramatisierung der Geschichte um einige Großdaten herum, diese Art Ausnutzung zwanghaften Erinnerns, bietet zu viele Vorteile, darunter auch politische. Man nennt das Geschichtspolitik – eine Disziplin, in der es Slobodan Milošević, der Gegner von Panić, bekanntlich zur Meisterschaft brachte.

Wenn von Erinnern und Vergessen die Rede ist, geht es meistens um Traumatisierungen, um Verletzungen. Kollektive Traumatisierungen können – schwierig genug – bewältigt werden, meistens aber werden sie von interessierter Seite ausgebeutet. Für die Nutznießer der kollektiven Traumatisierung erweist es sich dabei stets als notwendig, die Katastrophe, die zur Verletzung führte, aus ihren historischen Zusammenhängen zu isolieren und sie – als ungeheuerliche Schandtat – einem identifizierbaren Gegner zuzuweisen. Im Fall Jugoslawiens dreht es sich natürlich um die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 und die Gegner waren, ja sind die Muslime.

Etwas Ähnliches ereignete sich mit einem Großdatum, das uns näher liegt, nämlich der Vertreibung von 12 Millionen Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches nach 1945. Vergeblich wird man in den Schriften der Vertriebenenverbände in den Jahrzehnten seit 1945 nach detaillierten Untersuchungen fahnden, die die unmittelbare Vorgeschichte der Vertreibungen, nämlich die Zeit der nazistischen Okkupation der Länder Osteuropas, zum Gegenstand haben. Den Polen im „Warthegau“, der tschechischen Minderheit im Sudetenland wurde noch übler mitgespielt als den Deutschen in den Ostgebieten und der Tschechoslowakei nach 1945. Noch weniger ist die Rede von der Kollaboration eines Großteils der deutschen Minderheiten mit dem Naziregime vor 1939, ein Fakt, den das Historiker-Ehepaar Hans-Henning und Eva Hahn, die Sudetendeutschen als Beispiel nehmend, kürzlich (Zeit, 8/2002) wieder detailliert belegte.

Gut, wird der versierte Geschichtspolitiker antworten, wenn wir die Nazizeit einbeziehen, müssen wir dann nicht weiter zurückgehen und die Diskriminierung der deutschen Minderheiten in Polen oder der Tschechoslowakei nach 1918 in Rechnung stellen, müssen wir uns nicht mit den unheilvollen nationalistischen Auswirkungen des Versailler Vertrags beschäftigen? Auch die Konstruktion von Ereignisketten unterliegt dem gleichen Schema, das beim schicksalhaften Einzeldatum wirkt. Stets geht es um das eigene Martyrium, stets sind es die anderen, die über einen herfielen oder teilnahmslos beiseite standen.

So waren die Vertriebenen in der (west)deutschen Nachkriegszeit privilegierte Opfer: Dieser Status verhalf ihnen zu einem gesellschaftlichen Bonus, und der Gesellschaft gelang es darüber hinaus, sie binnen zweier Jahrzehnte zu integrieren. Der materiellen Kompensation, der raschen Eingliederung, dem sozialen Aufstieg stand in der Bilanz ein mächtiges Minus gegenüber: die Feindseeligkeit, bestenfalls die Gleichgültigkeit, mit der die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft das Vertreibungsschicksal bedachte. Die Vertriebenenverbände konnten sich bei ihrer revanchistischen Rhetorik gerade auf diese zweite Verletzung stützen. Sie führte dazu, dass viele Vertriebene zwanghaft an ihrer Opferrolle festhielten und sich die selektive Deutung der Geschichtspolitiker zu Eigen machten. Auch sie erinnerten das eine und vergaßen das andere. An der zweiten Verletzung in der Nachkriegszeit wirkten auch viele Linke und Linksliberale mit, die in der Vertreibung und gerade in den individuellen Vertreibungsschicksalen nichts als die gerechte Strafe sahen für die Verbrechen des Nazismus. Das hat sich mit den Jahren geändert. Bei einer Reihe von Autoren, die das Thema der Vertreibungen aufgriffen, ist Mitgefühl an die Stelle der Ausgrenzung getreten. Seit die Ostgrenzen endgültig feststehen und Ostmitteleuropa sich Richtung EU aufmacht, verliert der Revanchismus an Anziehungskraft, seine Protagonisten sterben oder segeln jetzt unter europäischer Flagge. Dass auch die Vertriebenen Opfer waren – dies einzusehen, bedeutet nicht, sich die Sichtweise des Bundes der Vertriebenen zu Eigen zu machen, auf Entschädigung oder gar auf Rückgabe des verlorenen Guts zu pochen. Es ist dieses günstigere Klima, in dem der Kaschube Günter Grass nun seinen Weizen ausgesät hat.

Jetzt kann man gegen eine Geschichtspolitik argumentieren, die nur historische Mythen konstruiert

Jetzt scheint es auch nicht mehr aussichtslos, gegen eine Art von Geschichtspolitik zu argumentieren, die Erinnern und Vergessen der Konstruktion historischer Mythen unterordnet. Oft ist der biografische Zugang, sind die Mittel der Oral History aussichtsreich, um die Menschen aus der Zwangsidentifikation mit der Opferrolle zu befreien, um ihnen ihr „Recht auf Biografie“ zurückzugeben. Der Anspruch, mit seinem Vertreibungsleid einzig und allein dazustehen, relativiert sich, wenn sich bei einem Besuch in der alten Heimat herausstellt, dass die neuen Eigentümer des schlesischen oder ostpreußischen Hauses ebenfalls Vertriebene sind – aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten. Der Berliner Historiker Peter Steinbach spricht von einem multiperspektivischen Zugang zur Geschichte. Nach ihm kommt es darauf an, sich in den anderen zu „versetzen“, seine Erlebnisse für sich nachzuvollziehen, seine Sichtweise quasi experimentell zu übernehmen. Es geht also heute, gegen jeden Alleinvertretungsanspruch, um Empathie mit allen Opfern.

CHRISTIAN SEMLER