wirtschaft & wahlkampf
: Gefühlte Verantwortung

Wenn man die Politiker derzeit über die Konjunktur reden hört, könnte man meinen, sie hätten die Wirtschaft voll im Griff. So als ob das Wirtschaftswachstum eine Größe wäre, die man per Gesetz – ganz wie Steuern – heben oder senken könne. Nach Meinung von Friedrich Merz, Edmund Stoiber und Co. haben uns die falschen Entscheidungen der Regierung in die Rezession getrieben. Folgt man Hans Eichel, brauche es bloß noch weitere vier Jahre rot-grüner Regierung, bis die Erblasten der alten Regierung endgültig dank seiner richtigen Politik abgetragen seien – und die Wirtschaft blühe.

Kommentarvon MATTHIAS URBACH

Alle tun so, als folge die Konjunktur nicht eigenen Gesetzen: Als sei die Spekulationsblase der New Economy nie geplatzt, als habe der 11. September das Konsumklima nicht gestört. Dabei musste die Politik schon in den 70ern mit ihren gescheiterten Investitionsprogrammen erleben, dass die Konjunktur sich nicht so leicht steuern lässt. Wozu haben wir den Euro und die Stabilitätskriterien eingeführt? Warum senken wir die Unternehmenssteuern und suchen mühsam nach Sparmöglichkeiten im Haushalt? Weil die internationale wirtschaftliche Verflechtung wenig Spielraum lässt.

Und selbst wo die Politik verbliebene Spielräume nutzt, wirken die Maßnahmen nicht sofort. Steuer- und Arbeitsmarktreformen brauchen ein paar Jahre, bis sie ihre Wirkung entfalten. Der Abbau der Verschuldung entlastet noch viel später den Haushalt – bis dahin kostet er.

Diese Zwänge einzuräumen passt nicht ins Selbstbild der Politiker: Sie wollen Macher sein, nicht bloß Moderatoren. So wollen schnell Erfolge zaubern, wie Zocker an der Börse.

Für den Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder war es etwa 1998 viel zu verlockend, 3,5 Millionen Arbeitslose zu versprechen. Er setzte auf ein Anziehen der Konjunktur, wie es die Wirtschaftsforscher prognostiziert hatten. Und auch die Union kann nicht widerstehen, jetzt die Flaute genauso Schröder anzulasten. Und weil es zu jeder konjunkturellen Macherfantasie ein sachliches Kontraargument gibt, wirft man sich nun gegenseitig „Wahrnehmungsstörungen“ und „Realitätsverzerrung“ vor.

Selbst wenn eine Partei das Patentrezept entdeckt hätte, sie müsste es erst einer satten Republik schmackhaft machen und es gegen Länder, Lobbys und Wählerwillen durchsetzen. So versprechen die Parteien blühende Landschaften – und ernten Verdrossenheit. Ganz egal, wer gerade regiert.

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