Letzte Hilfe: Improvisation

Während in Salt Lake City die 19. Olympischen Winterspiele beendet und bereits jetzt als stimmungsvoll und perfekt organisiert bilanziert werden, droht in Athen zu den Sommerspielen des Jahres 2004 ein organisatorisches Desaster. Ein Stimmungsbericht

von NIELS KADRITZKE

Als im Herbst 1997 das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Sommerspiele 2004 an Athen vergab, versprach das griechische Planungskomitee „Spiele ohne Fehl und Tadel“. Jetzt, dreißig Monate vor der Stunde der Wahrheit, müssen die Verantwortlichen ständig neue Fehler einräumen und sehr besorgten Tadel einstecken.

Gianna Angelopoulos-Daskalaki, Präsidentin des Organisationskomitees, predigt ihren Mitarbeitern seit zwei Jahren, man müsse einen Marathonlauf im Sprinttempo hinlegen. Ob das motivierend wirkt, ist zweifelhaft. Schließlich lernen alle Griechen bereits in der Schule, dass der erste Marathonläufer vor 2.512 Jahren am Ziel tot zusammenbrach.

Der strenge Schweizer Denis Oswald, IOC-Inspektor der laufenden Olympiavorbereitungen, hat in Athen bei seiner jüngsten Kontrolle im Januar ein verstörendes Bild gewonnen. Ein Drittel der Bauvorhaben befände sich im „roten Bereich“, also stark im Verzug, darunter das aufwändige Ruderzentrum bei Marathon. Und mit dem Bau der Wildwasserpiste – eine bizarre Betonanlage auf dem Gelände des alten Flughafens – wurde nicht einmal begonnen.

Oswald erfuhr in Athen außerdem, dass wichtige Verkehrsprojekte von der griechischen Regierung einfach storniert wurden. Der Olympiaetat des Staates droht die Verschuldungsgrenze zu durchbrechen, die allen Euroländern auferlegt sind. Aber auch finanzierbare Projekte sind gefährdet. Experten bezweifeln, ob die beiden Tramlinien, die wichtige Olympiastätten im Westen Athens mit dem Zentrum verbinden, rechtzeitig fertig werden.

Die Verzögerungen und Planungsfehler sind Folge der falschen Zuversicht von 1997. Als Athen den Zuschlag endlich bekam, waren schon fast achtzig Prozent der olympischen Anlagen fertig gestellt – denn sie sollten schon für die Sommerspiele 1996, so hatte man gehofft, genutzt werden können. Doch damals erhielt Atlanta den IOC-Segen – und Athen war beleidigt. Also tat man erst mal drei Jahre nichts. Diesen Jahren läuft man jetzt hinterher.

Verdrängt wurde, dass die älteren Sportstätten bis 2004 ohnehin hätten runderneuert werden müssen – und auch eine Renovierierung Zeit kostet. Beim Olympiastadion dauert das von sofort bis Sommer 2003, zumal die zentrale Olympiaanlage ein Facelifting braucht. Dafür wurde der spanische Stararchitekt Santiago Caltatrava engagiert, der das Gelände mit aufwändigen Hängekonstruktionen überdachen will. Keine schlechte Idee, denn bislang war das Publikum schutzlos einer grillenden Sonne ausgesetzt. Freilich wird die komplizierte Konstruktion die Instandsetzung des zentralen Olympiageländes noch weiter verzögern.

Solche spontanten, aber Zeit raubenden Ideen machen das IOC zusätzlich nervös. Wenn die Testveranstaltungen nicht 2003 stattfinden, wird sich die Sorge zum Alarm steigern. Denn sollten sich bei verspäteten Generalproben erhebliche Schwachstellen zeigen, würde die Zeit für die nötigen Korrekturen im Sprinttempo davonlaufen.

Neben der Zeitplanung gibt es weitere ungelöste Schlüsselfragen. Die erste interessiert vor allem die griechischen Steuerzahler: Wie teuer wird die Chose? Die Bauunternehmer reiben sich bereits die Hände wund. Knappe Termine bedeuten satte Preisaufschläge. Auf der Rechnung bleiben die Griechen allein sitzen, denn die EU wird ihre Zuschüsse für Infrastrukturprojekte (vierzig Milliarden Euro) nicht aufstocken.

Die zweite entscheidende Frage lautet: Wie wird der Verkehr während der olympischen Wochen fließen? Die Verkehrsplaner sind optimistisch, weil im August halb Athen in den Ferien ist. Als das IOC vor zwei Jahren überlegte, die Spiele um einen Monat zu verschieben, wehrten die Athener panisch ab: Im September würden die Olympischen Spiele im Stau stecken bleiben.

Ein urlaubsleeres Athen ist jedoch nur angenehm für die Olympiagäste, beschert den Veranstaltern aber zugleich ein drittes Problem. Woher soll das Publikum kommen, das die Wettbewerbe besucht? Im Zweifel, so hört man, werden Soldaten abkommandiert – und mit Freikarten ausgerüstet.

Die vierte Frage ist schwerer zu beantworten: Wo soll man die erhofften Olympiatouristen unterbringen? Experten sehen hier das gravierendste Problem. Die Hotelkapazität Athens reicht noch nicht einmal für die Olympiafunktionäre aus, die neunzehntausend Betten in Hotels der besten Kategorien für sich reklamieren.

Da die meisten Olympiatouristen nicht in Absteigen wohnen wollen, fehlen Athen zehntausende von Hotelzimmern. Neue Hotels werden trotz staatlicher Anreize bis 2004 kaum gebaut werden. Und auch die günstigen Renovierungskredite für ältere Hotels stoßen auf Desinteresse. Wer verschuldet sich schon wegen zwei Wochen olympischer Hochsaison?

Bleibt die Idee, zehntausende von Olympiagästen auf Schiffen im Hafen von Piräus unterzubringen. Aber die Sicherheitsexperten sagen, dass solche schwimmenden Herbergen geradezu Terroristen anziehen. Auch wäre die Infrastruktur des Hafens mit zusätzlichen Gästen hoffnungslos überlastet.

Es gibt nur einen Ausweg, über den noch kein Offizieller zu sprechen wagt: Am Ende wird man den meisten Olympiagästen Privatquartiere anbieten müssen – etwa in den Wohnungen der Athener, die vor dem Olympiastress fliehen. Aber auch hinter diesem Plan steht ein Fragezeichen: Die Idee, die eigenen vier Wände an fremde Menschen zu vermieten, finden die meisten Griechen obskur. Die materiellen Anreize für diese Bereitschaft wird man jedenfalls sehr hoch ansetzen müssen.

Damit ist die goldene Olympiafrage angesprochen: Können die genervten Athener überhaupt eine olympische Atmosphäre erzeugen? Sydney hat gezeigt, dass die Spiele von der Begeisterung der Bevölkerung und der Mitarbeit freiwilliger Helfer leben. Für die Olympischen Sommerspiele müssen sechzigtausend junge Griechinnen und Griechen mobilisiert und motiviert werden. Doch die Chance, so viele Begeisterte zu finden, hängt von der gesellschaftlichen Grundstimmung ab. Und die mutet momentan eher verdrossen an. Beispielsweise, wenn die Großbauprojekte dazu führen, dass Lastwagenkarawanen den Straßenverkehr vollends zum Erliegen bringen; oder wenn die Bauunternehmer dem Staat ständig neue Rechnungen vorlegen; oder wenn die ersten Korruptionsskandale ans Licht kommen.

Der vorhersehbare Ärger wird zudem einen innergriechischen Konflikt zuspitzen: Die Provinz ist notorisch verbittert, dass das Gros der Subventionen und Steuermittel in die Hauptstadt fließt. Wenn sich diese Stimmung verschärft, wird man, etwa in Nordgriechenland, für die „Athener Spiele“ nur wenig Freiwillige finden.

Ein weiterer Faktor könnte die Olympiastimmung noch stärker verderben. Das Thema Sicherheit ist seit dem 11. September noch akuter geworden. Schon vor den Terroranschlägen in den USA hatten die Athener Organisatoren ein „Sicherheitsproblem“ namens „17. November“. So heißt die Organisation, die seit 1975 bei mehr als hundert Anschlägen 23 Menschen ermordet hat. Mit dem Hinweis auf diese Terroristen versuchten die USA noch vor zwei Jahren, die Athener Spiele zu torpedieren. Nach dem 11. September hat Washington neuerlich signalisiert, dass die US-Athleten 2004 zu Hause bleiben werden, wenn der „17. November“ nicht bis spätestens 2003 zerschlagen ist.

Bei so vielen Problemen und offenen Fragen ist die ursprüngliche Euphorie der Athener für das olympische Projekt verflogen. Niemand rechnet mehr mit dem berühmten Barcelonaeffekt: Die Olympischen Spiele von 1992 haben die katalanische Metropole auf der Liste der beliebtesten europäischen Reiseziele von „ferner liefen“ auf den dritten Platz katapultiert. Trotz des neuen Akropolismuseums und eines geplanten archäologischen Wanderpfades, der bescheidene Schneisen durch die trostlose Betonlandschaft der Stadt schlagen soll, wird Athen dies nicht erreichen.

Die Athener sind inzwischen bescheiden geworden. Sie wären schon froh, wenn sie sich in zweieinhalb Jahren nicht vor aller Welt blamierten. Das immerhin will man schaffen, und zwar dank der Fähigkeit, die sich fast alle Griechen zugute halten: Im alltäglichen Chaos so zu improvisieren, dass man gerade noch die Kurve kriegt.

Schon bei den ersten modernen Olympischen Spielen haben die Athener diese Kunst unter Beweis gestellt. 1896 ließ der wichtigste Bauunternehmer zwei Monate vor der Eröffnungsfeier wissen, das Marmorstadion werde leider nicht rechtzeitig fertig. Man fand eine Lösung. Bei den Zuschauerrängen wurden nur die untersten vier Stufen in Marmor ausgeführt, der Rest aus Holz gezimmert und – damit es nicht auffällt – weiß angestrichen. Auf festliche Garderoben für die Athleten wurde ganz verzichtet.

So weit wird es in Athen 2004 nicht kommen. Diese Sommerspiele werden stattfinden, wenn auch mit Abstrichen an Komfort, Ästhetik und Perfektion. Von „einzigartigen Spielen mit menschlichen Dimensionen“, von denen 1997 noch die Rede war, spricht niemand mehr. Und auch nicht von den Ambitionen, die noch vor zehn Jahren in aller Munde waren. Damals propagierten die griechischen Politiker eine größenwahnsinnige Idee: Als Erbe der alten Hellenen sei man berechtigt, die modernen Olympischen Spiele ständig auszurichten. Von dieser Idee waren damals alle begeistert. Heute kann sich niemand mehr an sie erinnern.

NIELS KADRITZKE, Jahrgang 1943, ist Redakteur der Le Monde diplomatique. Athen besuchte er zuletzt im Januar