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Gruppe M: „Die Welt in der wir wohnten“
: Splitter von Kaputtbiografien

„Prawda“ sagt der Russe, wenn er Wahrheit meint. Prawda hieß die Staatszeitung im Sowjetsozialismus. „Prada“ steht dagegen für den letzten Schrei. Im Kontext dieser weitläufigen Zuschreibungen aus Mode, Polit und Verzweiflung bewegen sich auch die „Prawda-Zecken“, von denen es heißt: „Sie hatten die Schläfenhaare zu einem überdimensional langen Scheitel über das ausrasierte Haupthaar gekämmt, trugen billigste Sanitärkittel und Jeans, die am Hintern ausgeschnitten waren.“

Immer wieder liest man den Satz zur neuesten Underground-Bewegung im Roman „Die Welt in der wir wohnten“, den die Gruppe M (Claudia Basrawi, Michael Horn und Mario Mentrup) zwischen 1997 und 2001 geschrieben hat. Doch die Helden hinter dem Kult wirken eher enttäuschend: „Prawda-Zecken“ sind einfach bloß gestörte junge Leute, die sich schlecht ernähren, wenig kommunizieren und darauf warten, dass das Leben vorbeigeht. Manchmal schlagen sie Hunde tot, dann haben die Zeitungen eine Schockmeldung mehr aus Berlin. Dass sich dieses schlaff nihilistische Pop-Movement in Mitte und im Wedding angesiedelt hat, ist für Hauptstadt-Fiction nicht ungewöhnlich.

Überall brummt der soziale Aussatz in der Stadt: Da ist ein gewisser Schwab, der bei der GEZ arbeitet, gerne seinen Sadismus ausleben würde und am Ende in der Klinik landet, wo er irre Irrenlyrik verfasst. Da gibt es Vera, Gayle und Babsi, die ihr Geld in einer Nacktbar verdienen und doch lieber Kunst produzieren würden. Jens Woltersheim wiederum wäre besser Student geblieben – nun filmt er Low-Budget-Sex und wird schließlich auch verrückt. Und Paul Boettcher, der Literaturwissenschaftler aus USA, möchte seinen Berlin-Aufenthalt nutzen, um auf dem Gelände des KZ Oranienburg eine Organisation für Geldwäsche zu gründen. Nur einmal, im Suff, erzählt er von der krausen Idee, danach taucht er nie wieder auf, nicht einmal seine Leiche wird gefunden. Später hört Jens allerdings Stimmen, die ihm zuflüstern, wie sich aus abgehackten Körperteilen Hakenkreuze formen lassen. Vielleicht hat er’s getan.

„Die Welt in der wir wohnten“ setzt sich aus lauter Bruchstücken solcher Kaputt-Biografien zusammen. Das Scheitern ist hier kein Spaß, sondern ödester Normalzustand. Die Optionen auf crazy Selbstverwirklichungen sind aufgebraucht, übrig geblieben ist nur ein eng abgesteckter Rahmen aus Billigjobs und fahlem Amüsement. Die Chancen zum Aufstieg aus der hippen Randkultur sind im kapitalistisch getrimmten Alltag merklich geschrumpft: Veras schwer konzeptuell gedachte Non-Happening-Pornos werden vom Verleiher mit stumpfen Wichs-Kommentaren unterlegt. Nur die verworrenen Endzeit-Gedichte von Schwab haben Bestand, zumindest für den behandelnden Psychiater: „Das ist albern / Zigaretten sind schlecht / Bier ist schlecht / ist das schlottern?“ steht in seiner Anthologie „Gibt es Tesaband?“, wie in den besten neodadaistischen Zeiten.

Auch der Roman hält Ausschau nach entsprechenden Verwandschaften. Mehr jedenfalls als die Trash- oder Pulp-Storys, die Mario Mentrup nach dem Tod von Erich Maas in dessen Verlagsreihe „Maas Media“ herausgibt, gehört „Die Welt in der wir wohnten“ ins Feld der Dada-Erzählungen nach Art von Walter Serner. Der 1942 im KZ Theresienstadt ermordete Schriftsteller wird schon im Vorwort mit dem Satz zitiert: „Verspotte niemanden. Ganz im Grunde versteht kein Mensch einen Spaß, den man mit ihm macht.“ Dabei hätte ein anderer, ebenso schöner Gedanke aus Serners Manifest „Letzte Lockerung“ noch besser zum Buch gepasst: dass nämlich Weltanschauungen nichts als Vokabelmischungen sind. Deshalb erzeugt jedes Mehr an Text zwangsläufig mehr Interesse an Welt. Die gleiche Überzeugung scheint die 42 Kapitel von „Die Welt in der wir wohnten“ leichthin zusammenzuhalten: Es ist egal, ob es einen Drink namens „Pitti ist müde“ wirklich gibt – trinken würde man ihn trotzdem gerne, wenn man erst einmal davon gelesen hat. HARALD FRICKE

Gruppe M: „Die Welt in der wir wohnten“. 172 Seiten, Maas Media Vol. 16, 12,50 € (Books-on-Demand)