Die Mühle am rauschenden Krach

Mehl für die Stadt: Jürgen Wolf stammt aus einer Müllerfamilie mit jahrhundertelanger Tradition. Seit sieben Jahren betreibt er im 700 Jahre alten Dorfkern von Marzahn eine der letzten produzierenden Museumsmühlen Deutschlands. Ein Porträt

von MATTHIAS ECHTERHAGEN

Jahrhundertelang eingeschliffen sind die Gesetze, nach denen die Geräte funktionieren. Es ist eine eigene Welt. Der in ihr wohnt, heißt Jürgen Wolf, trägt eine weiße Jacke, eine weiße Hose, ein Käppi und einen Schnauzer. Früh am Morgen, wenn es dämmert, steigt er den Hügel hoch und schließt das knarrende Tor auf. Kurz darauf bitten schon die ersten Besucher um Einlass. Wenn keine Besuche vorgesehen sind, beginnt er mit der Arbeit.

Wolfs Welt ist eine Mühle, genauer: eine produzierende Museumsmühle. Sein Mehl wird in die umliegenden Bäckereien gebracht, zugleich soll die Mühle als Museum den 700 Jahre alten Dorfkern Alt-Marzahn ergänzen, der am Fuß des Hügels liegt. In vielen alten Geschichten und Märchen wie Ottfried Preußlers fesselndem Kinderbuch „Krabat“ sind Mühlen nicht selten magische Orte, wo die Macht der Willkür regiert, und die Müller verschlagen grinsende Gestalten, Alchemisten und Magier, die etwas wissen, was der Leser nicht weiß und oft mit dem Teufel im Bunde sind. Wolf wirkt anders, natürlich, geerdet, ein normaler Müller, denkt man. Auch von Krähen und schwarzen Katern findet sich hier keine Spur.

In den Dorfresten von Marzahn stehen Bauernhäuser gedrungen nebeneinander. Die einzige Straße führt an einem zentralen Kirchturm entlang, dann bricht sie plötzlich ab. Vor einem liegt jetzt die Allee der Kosmonauten, auf der Autos und Tramlinien vorbeirauschen. Sie schneiden das alte Dorf wieder weg, wie Bilder aus einem falschen Film.

Wolfs sperrige, auf dem Hügel thronende Mühle hält man sofort für ein Museumsstück. Als wäre sie schon immer da gewesen, hat sie sich unmerklich in die auslaufenden Fransen von Alt-Marzahn eingepasst. In Wirklichkeit ist sie jünger als die meisten Autos auf der Allee der Kosmonauten. 1994 wurde sie eröffnet – als Nachbau derjenigen Bockwindmühle, die vor 200 Jahren auf der anderen Seite des Dorfes stand.

Bockwindmühlen seien praktisch, erklärt Wolf: auf einem Holzstamm gebockt, könnten sie sich bei Wind drehen, gegebenenfalls auch an eine andere Stelle versetzt werden. Daher das früher verbreitete Wort von der wandernden Mühle. Wolf selbst war zehn Jahre auf Wanderschaft, bevor er 1994 in Marzahn sesshaft wurde. „Bei der Stellenausschreibung konnte ich mich gegen die anderen Bewerber durchsetzen. Sicher nicht nur, weil ich gelernter Müller bin, sondern auch, weil ich aus einer Müllerfamilie komme, die das seit Jahrhunderten macht.“ Wolf ist im Vorstand des Landesverbandes Berlin-Brandenburg tätig und leitet auch das Berliner Mühlenarchiv. Es sei ein langer Weg gewesen, sagt er, bis die Mühle dann tatsächlich gebaut werden konnte. Er habe eine Menge Unterlagen zu Hause, die das dokumentieren.

In der Feise seiner Mühle hängen Siebe aller möglichen Größen ordentlich aufgereiht, neben alten abgenutzten Sicherheitsgurten aus Leder. Wolf ist jetzt so richtig in seinem Element. Er erzählt von seinen Vorfahren, davon, dass er in der Mühle und im Sägewerk seines Vaters aufgewachsen ist. Er schlägt einen weiten historischen Bogen von den Anfängen der römischen Wassermühle bis in die Gegenwart und holt zwischendurch kleine merkwürdige Geräte hervor, die er in beinahe zärtlichem Ton erklärt.

Trotzdem sind in dieser fröhlichen kleinen Mühlenkunde auch skeptische Töne zu hören. Das liege daran, dass die Zukunft seines Berufs insgesamt eher schlecht aussehe, sagt Wolf. Außerdem würden die kleinen Mühlen auf dem Land immer weniger. „1870, im deutschen Kaiserreich, da hatten wir mal 66.000 Mühlen. Heute machen die letzten alten Meister noch ihren Betrieb, erwirtschaften aber nicht mehr so viel, dass sie ihre Gebäude instand halten können. Die fahren auf Verschleiß und können nicht mehr modernisieren. Wenn die letzten kleinen Bäckereien auf dem Land dichtmachen, dann ist da auch bald Feierabend. Schluss, aus, Ende der Fahnenstange.“

Und wirklich sind Mühlen wie die von Jürgen Wolf, gemessen an der weitgehend vollautomatisierten, elektrischen Mühlenlandschaft, ländliche, im Schwinden begriffene Nischen. Sie haben nur noch das Prinzip mit den großen Mühlen gemein, das Mahlen, Sieben und langsame Herausschälen des Mehlkörpers aus dem Getreidekorn.

Derzeit gibt es in Deutschland rund 1.000 Mühlen, von denen 465 gewerblich sind. Mit einer Jahresleistung von über 100.000 Tonnen übernehmen allein 26 Mühlen schon 60 Prozent der Gesamtproduktion von Feinmehl, Grieß und Schrot. Hier ist auch das Müllern nicht mehr so rustikal wie in Wolfs Mühle, wo ein Müller noch Tischlerkniffe draufhaben muss, wie Wolf versichert. Die 350 Lehrlinge, die derzeit in den großen Mühlen innerhalb von drei Jahren ausgebildet werden, lernen sowohl die genauen Verfahren zur Prüfung des Malgutes als auch Wartungs- und Reparaturarbeiten an den Maschinen.

Die Veränderungen müsse man klar und nüchtern sehen, sagt Wolf, klagen nütze gar nichts. Und außerdem, seine Mühle, die funktioniere ja wohl. Dafür ist der beste Beweis immer noch der Mahlgang, den Wolf jetzt mit einer gezielten Handbewegung anschmeißt. Plötzlich ist die Mühle ein riesiger Apparat – der knarrt und rattert, der schließt, kettet sich zusammen, der biegt und dehnt sich, wie er kann.

Während Lederriemen ein Rad mit dem nächsten verklinken, schweben über einen Sackaufzug Getreidesäcke nach oben. So muss es in den alten Mühlen gewesen sein. Man fragt sich, wo der Anfang und wo das Ende ist, und wie das wohl damals auf die Leute gewirkt haben muss. „Wenn die Mühle arbeitet“, ruft Wolf gegen den Lärm an, „steht der Verkehr unten still und staunt.“ Wolf lächelt, dieses Lächeln, ein zufriedenes, demiurgisches Lächeln, erinnert wieder an die alten Geschichten, an die nahezu ausgeblichenen Figuren, an das greifbare Glück und das Zittern, das man als Leser der alten Geschichten und Märchen hatte. Irgendwann hat man sie seltener gelesen, und schließlich hörte das ganz auf.

Marzahner Bockwindmühle, Hinter der Mühle 4, Marzahn, Mo.–Fr. 10–12/13–16 Uhr, Anmeldung erforderlich