Der versehentliche Vatermord

Fritz J. Raddatz las im Charlottenburger Buchhändlerkeller aus seiner letzten Erzählung

Fritz J. Raddatz ist nicht nur Literaturkritiker, sondern auch selbst Autor zahlreicher Biografien, Essays und Erzählungen. Das Werk des ehemaligen Rowohlt-Cheflektors und Entdeckers von Elfriede Jelinek und Walter Kempowski umfasst mittlerweile zehn Bände, bald vielleicht noch einen mehr.

Mit „Ich habe dich anders gedacht“ liegt seit letztem Jahr ein neuer Prosatext vor, den Raddatz am Donnerstag im Charlottenburger Buchhändlerkeller vorstellte. Die Erzählung ist kurz, aber sie hat’s in sich. Und Raddatz ist ein geübter Rezitator seiner selbst. Im kariertem Sakko lehnt sich der eher schmächtige Mann elastisch an das traditionelle Stehpult des Buchhändlerkellers, der seit 25 Jahren eigentlich gar kein Keller mehr ist. Das Publikum hat, wie der Stuck an der Zimmerdecke, mit den Jahren etwas Patina angesetzt. Westberliner Altkommunarden lehnen sich ins Polster, nippen bedächtig am Rotweinglas, und Raddatz legt los.

Aus der Perspektive des zu Beginn siebenjährigen Achim Moesgaard entfaltet sich eine Jugend im Berlin der Dreißigerjahre, die während des Krieges ihr tragisches Ende findet. Eine merkwürdige Nähe verspürt der Junge aus Tempelhof zu seinem „Onkel“ Samuel, einem reichen Schokoladenfabrikanten in Berlin-Wannsee, bei dem die Familie Moesgaard oft zu Gast ist. Dass Samuel mehr ist als der ehemalige Kriegskamerad seines Vaters, bleibt zunächst nur eine Ahnung des Lesers. Während Achim in die Hitlerjugend eintritt und später Mitglied einer SS-Motorradstaffel wird, muss der jüdische Samuel Deutschland verlassen. Zweimal noch kommt es zur Begegnung der beiden: das erste Mal in Paris kurz vor Beginn des Weltkrieges. Angesichts Achims naiver Begeisterung für das NS-Regime beendet Samuel dieses Zusammentreffen mit den kryptischen Worten: „Ich habe dich anders gedacht!“

Das zweite Zusammentreffen endet für Samuel tödlich: Während einer Razzia in Marseille wird er von Achim, der inzwischen die SS-Runen am Kragenspiegel trägt, erschossen. Schließlich erfährt Achim von seiner bei einem Bombenangriff auf Berlin schwer verletzten Mutter die Wahrheit über den „Onkel“ und sich selbst: in Wirklichkeit ist Samuel sein Vater.

Die Zuhörer auf den zerschlissenen Omnibus-Sitzbänken des Buchhändlerkellers nahmen’s gelassen und applaudierten höflich. Die poetisch etwas überkandidelten Textstellen hat Raddatz bei seiner etwa einstündigen Lesung allerdings wohlweislich ausgelassen: Ich Achim König von Saffian gieße mir Sami die Bronzefrau mit Schwengel fähnchenumsichelt neben Mutters Pfirsichchinesengesicht und so weiter gurgelt an mancher Stelle ein freudianisch-schlüpfriger Bewusstseinsstrom. Bei den Versuchen des ehemaligen Feuilleton-Chefs der Zeit, den Erzählfluss à la James Joyce ins Unterbewusstsein hinabgleiten zu lassen, bleibt kein Auge trocken.

So richtig gut getan hat das der kurzen Erzählung, die eher den Charakter einer Parabel hat, eher nicht. Die autobiografisch bedingte Motivation, über die deutsche Vergangenheit zu schreiben, kann bei „Ich habe dich anders gedacht“ nicht mehr so überzeugen wie dies in Raddatz’ früheren Texten der Fall war. Gerade mit der Romantrilogie „Kuhauge“, „Wolkentrinker“ und „Abtreibung“ hat der mittlerweile Siebzigjährige einen Schanzenrekord aufgestellt, der vielleicht nicht mehr so leicht einzuholen ist. Im Buchhändlerkeller konterte der selbstbewusste Raddatz mit den Worten: „Sie haben vergessen zu sagen, ich bin der Größte!“ ANSGAR WARNER