„Die dreckigsten Spiele der Welt“

Nach der Disqualifikation ihrer Frauenstaffel drohen die Russen mit dem Boykott der nächsten Sommerspiele

MOSKAU taz ■ Als das Internationale Olympische Komitee (IOC) nach dem russischen Sieg im Paarlauf auch noch den kanadischen Eiskunstläufern eine Goldmedaille zuerkannte, scherzte die russische Seele noch. Ebenso nach dem Sieg ihrer Eishockeymannschaft. Es sei überraschend, dass die Tschechen im Nachhinein nicht doch noch zum Sieger erklärt wurden, witzelte jedenfalls der Volksmund.

Damit hörte der Spaß aber auf. Die Russen fühlen sich nämlich in ihrer nationalen Ehre gekränkt, die Behandlung in Salt Lake City avancierte zum Thema Nummer eins. Kommentatoren vor Ort machen kaum noch einen Hehl aus ihrer Wut: „Betrug“, schrie der Berichterstatter von Radio Rossija, als nun auch noch die Skilangläuferin Larissa Lazutina disqualifiziert wurde – wegen überhöhter Blutwerte, die gemeinhin als Verdacht auf Doping gewertet werden. Erst hätten die Amerikaner die Spiele gekauft, meinte der aufgebrachte Russe am Mikrofon, nun verwandelten sie die Spiele in die dreckigsten, die die Welt je erlebt hätte.

Die Bevölkerung sieht es ähnlich. Sportlehrer Igor Sacharow hält alles für eine „ungeheure Schweinerei“. Amerikaner und Kanadier eröffneten auf dem Nebenschauplatz Sport einen neuen Kalten Krieg. Auch Arzt Wladimir Michailow ist außer sich: Die Olympischen Spiele seien nun endgültig gestorben. Den Vorwurf des Dopings hält er für einen „ausgemachten Schwindel“.

Die Empörung hat inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, dass sich nicht nur die Duma in einer Sondersitzung mit dem Ereignis befasst hat. Gestern verabschiedete das Parlament eine Resolution, die die russische Mannschaft auffordert, die Spiele vor der offiziellen Abschlussfeier zu verlassen. Der Präsident des nationalen russischen olympischen Komitees, Leonid Tjagatschew, hatte zuvor schon darüber nachgedacht, mit dem kompletten Team die Heimreise anzutreten. Auch der sportbegeisterte Kremlchef Wladimir Putin mischte sich ein: Über die mangelnde Objektivität der Punktrichter sei er verwundert, verlautete aus dem Kreml; immerhin warnte Judoka Putin vor überstürzten Maßnahmen.

Die Kritik des Kremlchefs richtete sich indes nicht allein gegen die olympischen Richter. Auch die eigenen Funktionäre, die sich gegen diskriminierende Behandlungen nicht entschieden genug zur Wehr gesetzt hätten, nahm Putin ins Visier. Schelte an der Passivität russischer Sportfunktionäre war seit längerem laut geworden, und auch die Erklärung wurde sogleich mitgeliefert: Sie genössen ein allzu süßes Leben im olympischen Milliardengeschäft, weshalb niemand es wage, seinen Mund aufzumachen.

Patriotismus bewiesen bestenfalls die Athleten. Allen voran die Eishockeyspieler, die statt Urlaub zu machen, für Russland anträten, meinte die Wedomosti. 22 der 23 Nationalspielern sind bei amerikanischen Clubs unter Vertrag. NOK-Boss Tjagatschew drohte an, die Sommerspiele in Athen zu boykottieren, wenn die disqualifizierte russische Skistaffel keine zweite Goldmedaille erhalte oder der Wettbewerb nicht wiederholt werde.

KLAUS-HELGE DONATH