Der Schritt aus dem Schatten

Stephan Eberharter gewinnt den olympischen Riesenslalom, wird – zumindest statistisch – erfolgreichster österreichischer Alpiner und steigt auf den Sockel neben Sailer, Klammer und Maier

aus Park City MARTIN HÄGELE

Die letzten zehn Tore fuhr Toni Sailer mit. Zwar stand der Berühmteste aller österreichischen Skirennfahrer nur am Rande der Strecke, aber er ballte die Fäuste um imaginäre Stöcke, als stände er höchstselbst auf den Brettern, die Anspannung des Finishs im Gesicht. Und dann, in dem Augenblick als Stephan Eberharter, Sailers Landsmann, über den Zielstrich raste, riss er die Hände hoch – immer und immer wieder. Der „schwarze Blitz von Kitz“, der 1956 in Cortina d’ Ampezzo alle drei alpinen Goldmedaillen nach Tirol mitgenommen hatte, sah dabei nicht aus, wie man sich gemeinhin einen Pensionär vorstellt. Der Kampf seines Nachfolgers um den richtigen Platz in den sportlichen Annalen der Alpenrepublik hatte die Skilegende um mindestens 20 Jahre jünger gemacht.

„Bronze, Silber, Gold, sauber wie sich der Bursch raufgearbeitet hat“, würdigte Sailer Eberharter: „Jawohl, unsere Hoffnung ist aufgegangen.“ Dass sein letzter olympischer Auftritt für den überragenden Skiathleten dieses Winters nicht einfach gewesen war, hatte nicht nur der alte Experte gespürt. Wenn einer in einer Saison alle klassischen Abfahrten gewonnen und bei drei von vier Super-G-Rennen oben auf dem Podest gestanden hat, aber bei den olympischen Prüfungen in seinen Paradedisziplinen nur Zweiter und Dritter wird – und in seinem schwächsten Fach dem Rest der Skiwelt zeigt, wo’s langgeht, „dann ist das geschichtsträchtig“, so ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnagel.

Ob Austrias statistisch erfolgreichster Alpiner (zu den drei Plaketten aus den Wasatch-Bergen addiert sich noch eine silberne aus Nagano) aber ähnlich prominent in der Nationalgalerie der Sailers, Klammers und Maiers ausgestellt wird? Ein Amerikaner hat den 33-Jährigen nach seinem speziellen Status in der österreichischen Gesellschaft gefragt, wo Skifahren offensichtlich wichtiger ist als Politik und Sex und Fußball. Am Abend des 11. September haben 2,1 von gut 8 Millionen Österreichern in der ORF-Tagesschau verfolgt, wie die Türme des World Trade Centers zerbarsten; am 10. Februar 2002 fieberten 2,45 Millionen vor ihren Fernsehgeräten, als Peppi Strobl in der Abfahrt den Norweger Lasse Kjus und eben Eberharter auf die unteren Stockerlplätze verwies.

Intelligente Österreicher genieren sich ob dieser Quoten. Und fragen sich genauso, warum dieser Eberharter, ein Bauernbub, der Akkordeon, Fremdsprachen und Skilehrer gelernt hat, warum dieser perfekte und ansonsten stille Sportler in seiner Heimat noch mehr verehrt wurde, als er im vergangenen Jahr immer Zweiter hinter Hermann Maier war. Mochten sie ihn aus Mitleid oder handelte es sich um jenes Phänomen, das immer wieder auftaucht im Sport: Dass man den Sieger in Serie ob seiner Erfolge respektiert, den knapp unterlegenen Zweiten aber liebt und mit ihm heult.

Ein richtiger österreichischer Skihero muss Macho sein und Chauvi, er sollte spektakulär gewinnen und zwischen seinen Triumphen auch immer wieder spektakulär von der Piste fliegen. Dieses Anforderungsprofil vom Arnold Schwarzenegger auf Skiern kann Stephan Eberharter aus Stumm in Tirol nicht erfüllen. Er konnte das noch nie, obwohl er schon 1991 Doppelweltmeister wurde. Er ist seit neun Jahren in keinem Rennen mehr gestürzt. Eberharter ist ein Kopfmensch, ein Technokrat, ein eiskalter Profi, der sich bis heute nichts davon anmerken lässt, dass ihn jahrelang Journalisten wie Trainer aus dem ÖSV-Team schreiben beziehungsweise schmeißen wollten.

Wie sehr es ihn wurmt, dass er ständig als Schattenmann des „Herminators“ tituliert wird und sich trotz seiner überragenden Leistungen immer wieder infrage gestellt sieht – der gewinnt doch nur, weil der Maier fehlt – lässt Eberharter seine Gesprächspartner allenfalls mal erahnen. Etwa wenn er erzählt, dass er im vergangenen Sommer härter als je trainiert und „im September noch mal eine Scheibe draufgelegt“ habe. Am 24. August war Hermann Maier mit seinem Motorrad in den Mercedes eines deutschen Rentners gekracht. Alles nur Zufall? Oder Eberharters klar kalkulierte Reaktion auf die nationale Katastrophe um Österreichs Sportidol Nummer eins?

„Im Augenblick konkurrieren wir nicht, der Hermann ist ja verletzt“, hat der Olympiasieger auf die Frage nach dem großen Abwesenden geantwortet. Eberharter wird weiter gegen den Ruf Maiers anfahren müssen. Vielleicht hilft es ihm und seiner Popularität, wenn er nach dem Gewinn des Abfahrtsweltcups auch noch die große Kristallkugel für den Gesamtweltcup abholen kann. Und das ausgerechnet in Flachau, vor der Haustür Hermann Maiers, wo nach den letzten Rennen der Saison die Trophäen verteilt werden.