Der sterbende Kwan

Die 16-jährige Sarah Hughes wirbelt die Hierarchien im Eiskunstlauf mit ihrem Olympiasieg durcheinander und lässt die gestürzten Favoritinnen Michelle Kwan und Irina Slutskaja ratlos zurück

„Zuletzt gab es dafür immer eine 5,8. Heute sehe ich plötzlich 5,6.“

aus Salt Lake City MATTI LIESKE

Es mutet ein wenig sonderbar an, wenn eine 16-Jährige gefragt wird, ob sie denn noch Ziele habe. „Ganz bestimmt“, entgegnete denn auch Sarah Hughes, „im Leben, aber auch im Sport.“ Olympiasiegerin zu werden, sei zwar ein großes Ziel gewesen, aber nicht das Lebensziel. Dafür hätte sie es auch verdammt früh erreicht, nachdem sie im absoluten Topevent dieser Winterspiele, dem Eiskunstlaufen der Frauen, den großen Favoritinnen die Goldmedaille wegstibitzt hatte.

Seit Wochen fieberte man in den USA diesem Ereignis entgegen, kaum ein Tag, an dem nicht große Storys über Sarah Hughes, Sasha Cohen, die 17-jährige Newcomerin, und Altmeisterin Michelle Kwan zu lesen waren, nicht zu vergessen ihre Moskauer Rivalin Irina Slutskaja. Zum Showdown zwischen Kwan und Slutskaja, Ost und West, Gut und Böse, hochstilisiert, wurde die Sache noch brisanter durch Skategate, den Preisrichterskandal im Paarlaufen, und im letzten Moment zusätzlich angeheizt von den Tiraden der russischen Mannschaftsleitung, wie schrecklich schlecht man sie bei diesen Spielen behandelt, und der Drohung unverzüglich mit dem gesamten Team abzureisen. Unter diesen Umständen Irina Slutskaja nur die Silbermedaille zu überlassen und Sarah Hughes, die im Kurzprogramm bloß Vierte war, zur Olympiasiegerin zu küren, entbehrte nicht einer gewissen Dreistigkeit.

So entwickelte sich nach Bekanntgabe der Entscheidung erstmal ein Rätselraten, wie das Ergebnis wohl zu erklären sei. Zwar hatte Slutskaja in ihrer Kür zwei missratene Landungen vollführt, doch die davon betroffene technische A-Note war gar nicht schlechter als die von Hughes. Die Crux war die B-Note, in der die Russin bei fünf – westlichen – Preisrichtern schlechter wegkam, worüber sie sich nicht ganz zu Unrecht echauffierte. „Seit einem Jahr arbeite ich hart an meiner zweiten Note, und ich habe große Fortschritte gemacht“, sagte Slutskaja. Außerdem: „Zuletzt gab es dafür immer eine 5,8. Heute sehe ich plötzlich 5,6. Ich bin schockiert.“

Nun kann man darüber streiten, ob theatralisches Haareraufen und ausgedehntes Ärmchenwedeln vollendeten künstlerischen Ausdruck darstellt, sicher ist, dass auch Sarah Hughes längst nicht an die Grazie und Ausdruckskraft einer Michelle Kwan heranreichte. Die nach dem Kurzprogramm führende 21-Jährige beförderte sich mit einigen Fehlern jedoch selbst aus dem Rennen um Gold und musste mit Bronze vorlieb nehmen. „So ist eben Sport, aber es ist eine Schande“, haderte Irina Slutskaja weiter mit der Jury, zu den russischen Konspirationstheorien wollte sie sich gleichwohl nicht äußern: „Das ist nicht mein Job.“

Grund zur Klage hatte zunächst Sarah Hughes. Als Einzige der Spitzenläuferinnen zauberte sie eine perfekte, homogene und dynamische Kür mit jeder Menge schwierigen Dreifachsprüngen aufs Eis und wurde dafür in der A-Note zu gering bewertet, weil die Preisrichter noch Platz nach oben lassen wollten. Die 15.000 im Olympic Ice Center gerieten aus dem Häuschen, als die High-School-Absolventin aus Great Neck, New York, ihr Programm beendet hatte und überschütteten sie mit Teddybären und Blumen.

„Die Noten waren ziemlich niedrig“, sagte Hughes später, deshalb habe sie einen Sieg nie für möglich gehalten. Sie hätten bei Kwan und Slutskaja gar nicht mehr richtig hingeschaut, nachdem die Bronzemedaille sicher war, erzählte Trainerin Robin Wagner, „als dann jemand rief: ‚Ihr habt Gold‘, waren wir völlig baff, denn das war überhaupt nicht auf dem Radarschirm.“

Anders als bei der 15-jährigen Tara Lipinski, die vor vier Jahren in Nagano praktisch aus dem Nichts kam, Michelle Kwan das Gold abspenstig machte, und dann wieder verschwand, ging die Karriere von Sarah Hughes systematisch voran. Mit zwölf war sie Juniorenmeisterin der USA, 1999 bei der WM Siebte, danach Fünfte, zuletzt Dritte. Langsam eroberte sie die Aufmerksamkeit der Preisrichter, in dieser Saison konnte sie dann Kwan und Slutskaja erstmals besiegen. „Unser Plan war langsam und stetig“, erzählt Trainerin Wagner, „am Ende zahlt sich das aus.“

So nüchtern wie die Karriereplanung, so nüchtern ist auch Sarah Hughes selbst. Sie stammt aus einer wohl situierten Familie, die älteren der sechs Geschwister studieren in Cornell oder Harvard, Vater und Mutter wechseln sich mit der Reisebegleitung für die eislaufende Tochter ab. Das Freudengekreisch nach dem unverhofften Goldgewinn war schon ein Höchstmaß an Emotionalität für Sarahs Verhältnisse und kam außerdem überwiegend von Trainerinnenseite. „Ich bin selten aufgeregt“, erklärte die Olympiasiegerin die Abwesenheit von besonderer Euphorie oder gar den allgemein üblichen Tränenergüssen bei der Siegerehrung. Genauso gelassen war sie auch gelaufen, mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht nach jedem gelungenen Sprung.

„Natürlich wird der Druck auf sie in Zukunft viel stärker sein als heute“, sagt Robin Wagner, hat aber wenig Zweifel, dass ihre Elevin auch weiterhin ähnlich locker laufen kann wie Salt Lake City. Ob es dann wieder gegen Irina Slutskaja und Michelle Kwan geht, darauf wollten sich die beiden düpierten Favoritinnen noch nicht festlegen. Dafür saß der Schock über die erneute olympische Teenagerattacke vor allem bei Kwan doch noch zu tief.