Ungarns Premier übt noch

Tschechien und die Slowakei lassen Gipfeltreffen mit Ungarn wegen Streit um Beneš-Dekrete platzen. Kurz darauf distanziert sich Budapest von seiner Forderung

BERLIN taz ■ Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat mit seiner Forderung nach einer Rücknahme der Beneš-Dekrete erhebliche außenpolitische Spannungen ausgelöst. Die Ministerpräsidenten Tschechiens und der Slowakei, Miloš Zeman und Mikulás Dzurinda, sagten daraufhin ihre für kommenden Freitag geplante Teilnahme am Gipfeltreffen der Visegrad-Vier (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) ab. Polen zog seine Teilnahme daraufhin ebenfalls zurück.

Kritik an Orbán kam auch von EU-Kommissar Günter Verheugen. Die Frage der Beneš-Dekrete habe nichts mit den Aufnahmeverhandlungen Tschechiens und der Slowakei zu tun. Und auch in Ungarn sieht er sich scharfer Kritik der Oppositionsparteien an der Außenpolitik seiner national-konservativen Regierung ausgesetzt. Ungarns Sozialisten sprachen von einem beispiellosen Fiasko der ungarischen Außenpolitik.

Mit den 1945 vom tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš unterzeichneten Dekreten wurde nicht nur die Vertreibung von drei Millionen Deutschen, sondern auch die von 100.000 Ungarn juristisch abgesegnet. Formal zurückgenommen wurden die Dekrete bislang nicht. Ungarn hatte Tschechien und die Slowakei in den vergangenen Jahren im Unterschied zu Deutschland und Österreich nicht aufgefordert, die Dekrete aufzuheben. Nun jedoch sprach Orbán sogar davon, dass die Vertreibungsdekrete der Rechtsordnung der EU widersprächen. Bei der Aufnahme Tschechiens und der Slowakei müssten sie automatisch ihre Gültigkeit verlieren.

Ganz anders sieht dies der tschechische Parlamentspräsident Václav Klaus. Er schlug vor, die Dekrete als Teil der europäischen Nachkriegsordnung in einer Klausel zum Beitrittsvertrag Tschechiens mit der EU aufzunehmen. Bisher hatte Prag stets versucht, die Dekrete aus den Beitrittsverhandlungen herauszuhalten.

Bei dem abgesagten Treffen der Visegrad-Vier wollten die Regierungschefs sich auf eine gemeinsame Erklärung in der Frage der EU-Landwirtschaftssubventionen einigen. Die EU will den Beitrittsländern diese Subventionen erst nach einer mehrjährigen Frist gewähren. Die Mitteleuropäer haben dagegen protestiert und bestehen darauf, daß sie Agrarsubventionen ab dem Zeitpunkt ihres Beitritts erhalten. Tschechien und die Slowakei verlangen nun von Ungarn, seine Position in der Frage der Beneš-Dekrete eindeutig darzulegen. Sie kritisierten Ungarn außerdem dafür, daß es ein gemeinsames Vorgehen der Visegrad-Vier bei den EU-Verhandlungen untergrabe.

Orbán reagierte am Wochenende auf die Kritik mit der Bemerkung, er habe mit der Äußerung lediglich seine private Meinung ausgedrückt. Der ungarische Außenminister János Mártonyi, mit dem Orbán sich offenbar nicht abgestimmt hatte, versuchte zu beschwichtigen. Ungarn habe die Frage der Dekrete in den bilateralen Beziehungen zu Tschechien und der Slowakei bisher nicht erhoben und wolle sie auch nicht mit dem EU-Beitritt der beiden Länder verbinden. KENO VERSECK