Der Unbeantwortete

Der Herkunft nach ist Josef Muscha Müller Sinto, aufgewachsen in Halle. Im Nationalsozialismus beginnt seine Odyssee in die wirkliche Welt. Heute lebt der 70-Jährige in Berlin und sucht noch immer seine Vergangenheit

von WALTRAUD SCHWAB

Josef Müllers Welt ist voller Wunder. So hat er einmal einen Elefanten durch die Tür eines Lokals bekommen und damit eine Wette gewonnen. Das ist schon lange her. Der heute Siebzigjährige, der Muscha genannt werden möchte, kannte den Chef vom Zirkus Renz gut. Er sei zum Stadtrand gefahren und habe zu ihm gesagt, er brauche einen Elefanten, der durch eine Tür geht. Wie groß denn die Tür sei, habe der Renz zurückgefragt. Erst am Ende eines langen Gesprächs erzählt er diese Geschichte. Es ist ein Rätsel.

Trotz dicker Haut sind Elefanten verletzlich. Ein gutes Gedächtnis wird ihnen nachgesagt. So sollen sie zurückfinden zu Quellen, Flüssen und Plätzen, die sie früher besucht haben. Allerdings erkennen sie wohl auch Angreifer wieder. Das kann für diese gefährlich werden. Überlebt ein Elefant das Massaker an seiner Herde, bekommt er nur schwer Anschluss an eine neue. Das Wichtigste aber: Die Dickhäuter können trauern.

Die Wohnung von Josef Muscha Müller in Reinickendorf ist voll gestellt mit Madonnen, Porzellanfiguren, Heiligenbildern. Ikonen hängen neben Hundeporträts, Urkunden neben Familienfotos. Dazwischen auch Landschaftsgemälde und Chagall-Reproduktionen. Verteilt auf Fensterbänke, Schränke und Bücherregale, bewachen ungefähr 30 Elefanten aus Holz, Glas und Ton die Zimmer. Nur sein allererster von 1940 fehlt. Er heißt „Bimbo“.

Den vergisst er nie, schreibt Müller in seiner Biografie. Denn als er mit acht Jahren zum ersten Mal von der Bühne gestoßen wird, spielt Bimbo eine Rolle. Für einen Mulatten habe er nichts, sagt der Weihnachtsmann, der ihm den ersehnten Elefanten nicht – wie vorher mit den Eltern abgemacht – geben will. „Mutti, was ist ein Mulatte?“ Später werden noch mehr Wörter auftauchen, die dem Kind zu schaffen machen: „Bastard, schwarzes Individuum, Judensau, nachgemachter Mensch!“

Wenn Müller heute Schulklassen besucht und erzählt, wie er nach und nach ausgegrenzt wird, wie Kinder aufhören, mit ihm zu spielen, ihn anspucken, wie Schulkameraden und der Lehrer Wilde ihn prügeln, spricht er die Jugendlichen direkt an. „Warum macht ihr das?“, fragt er sie wie damals. „Weil du ein Zigeunerschwein bist“, gibt er die Antwort. „Was ist ein Zigeunerschwein?“ Auf die Frage, so direkt gestellt, hat keiner eine Erklärung.

Müller weiß, wie er den Spannungsbogen halten muss. Vor mehr als 60 Jahren treffen ihn die Beschimpfungen unvorbereitet. Seine Eltern – Arbeiter, Sozialisten – haben Muscha, den Jungen mit der bronzenen Haut, angenommen. Seiner Herkunft nach ist er ein Sinto. Muscha aber wächst in der Gewissheit auf, Kind einer „normalen“ deutschen Familie in einer normalen Stadt, Halle, zu sein. Warum er plötzlich bei allem der Sündenbock ist, kann ihm niemand so erklären, dass es für ihn Sinn ergibt. Zwischen Wie und Warum klafft eine Lücke. Diese Leerstelle inszeniert Müller, der später viele Jahre als Heilpädagoge in der Kinderpsychiatrie Wiesengrund in Reinickendorf arbeitet, wenn er über sein Leben spricht.

Als Meister des Erzählens verzichtet Müller auf lange Einführungen. Bei einem Schulbesuch in einem Dorf im Schwarzwald legt er sich sofort mit dem Gekreuzigten an. „Was ist denn das da an der Wand?“, fragt er die Kinder. „Kennst du kein Kreuz?“, fragen sie zurück. „Doch, kenn ich, aber wer ist der da?“, insistiert Müller. „Das ist Jesus, noch nie was davon gehört?“ „Gehört schon, aber dann stimmt was nicht!“ „Wieso stimmt was nicht?“ „Der ist doch auferstanden, warum hängt er dann da?“ Das gibt den Schülern was zum Nachdenken. Müller ist doppelte Verneinung, also nicht unreligiös. Die Beschreibung gefällt ihm gut. Eine Kirche braucht er lange nicht. Später geht er zu den Baptisten.

Mit etwas Glück und dank beherztem Eingreifen seiner Eltern und des Jugendamts kann Josef bis 1944 vor Schlimmerem bewahrt werden. Eines Tages aber wird er doch von der Gestapo aus der Schule geholt und ins Krankenhaus gebracht. Er habe Blinddarmentzündung, wird ihm gesagt. „Ich bin nicht krank“, schreit er. „Du hast Blinddarmentzündung, verstanden!“

Von einem Dr. Rothmaler, der später Chefarzt in einer Klinik in Flensburg/Mürweg ist, wird der Zwölfjährige sterilisiert. Bevor er anschließend ins KZ verschleppt wird, gelingt es Freunden von Josefs Eltern aus dem Widerstand, ihn aus dem Krankenhaus zu schmuggeln, monatelang in einer Laube zu verstecken und zu retten. „Wunder sehen selten wie Wunder aus“, sagt er. Er ist ein vom Schicksal Hin-und-Her-Geworfener. Darin hat er sich eingerichtet.

Müller ist davon überzeugt, dass man vergeben muss. Auge um Auge, das funktioniert nicht. Leicht fällt es ihm nicht. Vor allem nicht in jenen Augenblicken, als der Zufall ihn nach dem Krieg sowohl mit dem Schläger-Lehrer Wilde als auch mit dem Kindersterilisierer Rothmaler zusammenführt. Er weiß heute nicht, ob er den einen nicht getötet hätte, als er ihn auf einer Parkbank plötzlich wiedererkannte, wäre er in seiner Wut nicht von einem Freund zurückgehalten worden. Immerhin: Der Lehrer hat sich entschuldigt. Der Arzt nicht.

Für Müller bricht eine Welt zusammen, als er das mit der Sterilisation richtig begreift. „Ich wollte mich umbringen. Zwangssterilisation ist biologischer Mord.“ Er weiß, seine Seele wird nun in niemandem mehr weiterleben. Was er metaphysisch fasst, wurde von den Nationalsozialisten mit genau jener Absicht geplant und durchgeführt. Dass Müller dann doch nicht Suizid begeht, verdankt er einer Vision. Er spürt, dass er gebraucht wird.

Müller wird nach dem Krieg als Verfolgter des Naziregimes anerkannt. Er macht eine Friseurlehre, wird dann aber Erzieher. Als er merkt, dass in der DDR unter Erziehung nicht Entfaltung des Kindes sondern Drill verstanden wird, reist er mit seiner Frau in die BRD aus. Hier ist er plötzlich ein Flüchtling. Er begreift es, wie er das Unbegreifliche immer begriffen hat: Mit den Augen des Kindes. So kann er „Warum macht ihr das?“ fragen.

Je älter Müller wurde, desto mehr Facetten seines Ichs kamen an die Oberfläche. Zunächst als Verwechslung. Zigeuner halten Müller für einen aus dem Familienclan der Rose. „Dafür haben sie ein Gespür.“ Nach und nach tauchen noch mehr Fragen auf. Ist er ein Müller oder ein Rose? Einer mit Sinti-Wurzeln ohne Sinti-Verwurzelung? Josef oder gar eigentlich Vincenz? Nur eines ist klar: „Ich bin ein Unbeantworteter!“

Vincenz. Auf ihn stieß Müller vor fast 15 Jahren. Es war die größte Überraschung seines Lebens. „Eine Lenkung.“ Bei seiner ersten Rückkehr in die DDR 1986 war es. Als er an Bitterfeld vorbei fährt, zieht sein Auto nicht mehr, obwohl es nicht kaputt ist. Müller versteht es als Auftrag, Bitterfeld zu besuchen. Dort ist er geboren. Bei einem Spaziergang durch die Stadt verläuft er sich, was er bis heute nicht begreift. „Wie kann man in diesem Nest die Orientierung verlieren?“ Plötzlich steht eine Nonne vor ihm, die ihn fragt, was er suche. „Meine Vergangenheit!“ Die Nonne hat Zugang zu den Kirchenbüchern und findet das Taufregister. So erfährt er nicht nur, dass sein zweiter Name Muscha ist, sondern dass mit ihm auch Vincenz Rose Müller getauft wurde. Sein Zwillingsbruder. Bis heute sucht er ihn vergeblich. Nur dass er selbst Vincenz sein könnte, hat er aus den verwirrenden Unterlagen herausbekommen.

Müller glaubt nicht, dass es, fände er seinen Bruder jetzt, „noch eine Herzensangelegenheit werden kann nach so vielen Jahren“. Der Einzige, der Licht in das Dunkel bringen kann, ist Vincenz Rose, der Pate von Vincenz. Er weigert sich, Müller je zu treffen und schweigt beharrlich bis zu seinem Tod.

Nicht nur dass Müller seine Familie nicht findet, viel schlimmer für ihn ist, dass er selbst keine Familie gründen kann. An Bekanntschaften mangelt es dem Charmeur nicht. Viele Frauen aber verlassen ihn, als sie erfahren, dass er sterilisiert ist und dass seine leiblichen Eltern Zigeuner sind. Die Naziideologie wirkt in den 50er-Jahren noch nach. Bei ihm selbst schwingt das Alte jedoch auch mit. Er lässt sich von seiner ersten Frau scheiden, als er erfährt, dass sie die Kinderlosigkeit auf pragmatische Weise beenden will. Solche Unvereinbarkeiten löse nur die Zeit auf, meint er.

Schreibend hat er sie verarbeitet. Auf mehr als zweihundert Seiten hat er sein Leben – wie in einem Atemzug – notiert. Es beginnt mit einem Jungen, dem vor den Augen aller sein Elefant nicht gegeben wird. Und endet mit einem Tabubruch: Die seelische Zerstörung, die die Zwangssterilisation für ihn bedeutet, hat er beschrieben. Mit allem falschen Denken, durch das er sich selbst quälen musste: Mann ohne Männlichkeit, Gatte ohne Begattung, Gebieter ohne Gebot, Herr ohne Herrschaft. Ein großer Trauernder.

1994 wird Müller das Bundesverdienstkreuz verliehen. Am Tag der Verleihung erfährt er, dass sein Antrag auf Entschädigung als Opfer von Naziverbrechen endgültig abgelehnt wird. Manchmal ist es unmöglich, zu wissen, wie eine Geschichte zu Ende geht. Der Elefant aber passte damals nur durch die Tür des Lokals, weil er noch jung war.

Zur Buchmesse in Leipzig erscheint die erweiterte Biografie unter dem Titel „Und weinen darf auch nicht …“ im Parabolis-Verlag. Am 28. Februar hat „Zwangssterilisiert“, ein Stück, das auf Müllers Geschichte basiert, Premiere im Thalia am Markt in Halle an der Saale.