bernhard pötter über Kinder
: Murphys Gesetz, Familienvariante

Normalerweise geht schief, was schief gehen kann. Mit Kindern ist das anders. Sonst gäbe es keine mehr

Hinterher brach mir der Schweiß aus. Und das lag nicht an der Wassertemperatur von 31 Grad.

Jonas zappelte vor Aufregung so wild herum, dass ich ihm kaum seine blaue Snoopy-Badehose anziehen konnte. Dann rannte er los. Ich rief ihm noch durchs Hallenbad nach: „Nicht rennen, hier ist alles rutschig!“ Dann schloss ich unsere Kabine ab und lief hinter ihm her, seine Schwimmflügel im Mund, um sie aufzublasen. Jonas war schon längst nach seiner Freundin Emma auf die Rutsche geklettert. Unten stand unsere Freundin Julia, hatte ihren Sohn auf dem Arm und spielte mit Emma. Jonas rutschte ins Wasser. Julia drehte ihm den Rücken zu. In wildem Gestrampel ging Jonas unter. Ich war noch 20 Meter weit weg. Von meinem Sohn sah ich nur noch das Gespritze. Zum Rufen war es zu laut. Ich pflügte durchs brusttiefe Wasser. Da drehte Julia sich um und zog Jonas aus dem Wasser. Hustend und spuckend saß er die nächsten Minuten auf meinem Arm. Dann bekam ich weiche Knie. Nur der Auftrieb des Wassers hielt mich aufrecht.

Auch Anna wurde ein bisschen bleich, als ich ihr abends davon erzählte. „So passieren Unfälle“, meinte sie. Wie beim Volleyball, dachte ich. Der Ball kommt geflogen, genau zwischen meinen Mitspieler und mich. Ich denke, er nimmt ihn an. Er denkt das Gleiche von mir. Zwischen uns saust der Ball zu Boden. Beziehungsweise ertrinkt ein Kind. „Wir haben uns jeder auf den anderen verlassen“, sagte ich. „Da passiert so was.“ Vor meinem geistigen Auge sah ich Generationen von Großmüttern die Hände ringen: „Kinder, passt bloß auf. Es passiert ja so viel!“

Aber das stimmt ja nicht. Ganz im Gegenteil. Das Leben mit Kindern besteht aus einer unablässigen Kette von haarscharf abgewendeten Katastrophen, von gerade noch vermiedenen Super-GAUs. Jonas und seine Freunde jedenfalls stechen sich mit den spitzen Bleistiften immer exakt drei Millimeter neben das Auge. Sie schubsen sich beim Rangeln so akkurat, dass sie mit dem Hinterkopf um Nanometer an der Heizungsrippe vorbeizischen. Und sie stürzen vom Hochbett immer genau auf den Kissenberg, der zufällig gestern da vergessen wurde und längst eingeräumt gehörte. Wäre unsere Wohnung ein Flughafen, die Pilotenvereinigung Cockpit würde uns wegen der Häufung von Beinaheunfällen nicht mehr anfliegen. Zumindest nicht, bis das Bodenpersonal ausgewechselt ist.

Vielleicht ist es ja eine effiziente Armee von Schutzengeln, die unseren Luftraum überwacht. Ich vermute etwas anderes: Es gibt eine familienfreundliche Variante von Murphys Gesetz („Was schief gehen kann, geht schief“). Modifiziert heißt es nämlich: Bei Knochenbrüchen, Schädeltraumata und dem Verlust ganzer Körperteile setzt Murphys Gesetz zumindest für Familien aus. Wenn aber der Kakaobecher vom Tisch fliegen kann, wenn sich eine Chance bietet, das Nutellabrot mit der Schokoseite nach unten auf dem Küchenboden aufsetzen zu lassen, oder die ganze Familie gleichzeitig krank, übernächtigt und schwer genervt sein kann, dann schlägt Murphy voll zu. Das System funktioniert, denn die Familie wird nicht ausgerottet, sondern immer nah am Rande des Nervenzusammenbruchs entlanggeführt. Genauer betrachtet muss es sogar ein solches Gesetz geben. Sonst würde kein Kind das Schulalter erleben.

Das Unglück schlägt also viel seltener zu, als es das statistisch gesehen tun müsste. Der Bowdenzug an meiner letzten funktionierenden Fahrradbremse reißt beim langsamen Rollen in der Fußgängerzone und nicht bei der rasanten Abfahrt mit Jonas auf dem Rücksitz. Die Nabelschnur unserer Tochter hatte einen dicken Knoten. Aber weil sie lang genug war, gab es bei der Geburt keine Probleme. Als Jonas letzte Woche in einem Anfall von akutem Irrsinn auf die Straße rannte, kam gerade kein Auto. Alles Situationen, wo man erst ganz normal weitermacht. Und beim Abendbrot dann heftig zu zittern beginnt.

Denn eines gilt auch für „Murphy family“: Es funktioniert nur, wenn man die Gefahren ernst nimmt. Der Seufzer „Es ist nichts passiert“ darf nicht zum Motto „Wird schon nichts passieren“ führen, sonst droht das unerbittliche Gesetz des größtmöglichen Schadens. Blut muss bei „Murphy family“ nicht fließen. Aber jede Menge Adrenalin. In diesem Hin und Her zwischen Hoffen und Bangen zittern wir uns durch den Alltag. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jonas schon deshalb keine giftigen Pilze schluckt, weil er Champignons eklig findet. Aber die Telefonnummer des Giftnotrufs bleibt trotzdem über dem Telefon an der Wand kleben. So viel Aberglaube muss sein.

Fragen zu kindern?kolumne@taz.de