„Die Lobeshymnen sind verfehlt“

Die Türkische Gemeinde in Deutschland kritisiert die kürzlich vorgestellte „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime als „Muster ohne Wert“. Das Papier sei an den zentralen, strittigen Fragen vorbeiformuliert worden

taz: Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat am vergangenen Mittwoch die Islamische Charta vorgestellt. Wie bewertet die Türkische Gemeinde in Deutschland das Papier?

Safter Cinar: Die Charta ist ein Muster ohne Wert und geeignet, die Öffentlichkeit zu täuschen, denn es werden Fragen beantwortet, die in dieser Form niemand an die Muslime stellt. Auf die eigentlichen kontroversen Fragen wird entweder gar nicht eingegangen oder sie werden nebulös beantwortet.

Das ist ein heftiger Vorwurf, den Sie sicherlich belegen können?

Natürlich. Es reicht nicht aus, zu sagen, wir halten uns an deutsche Gesetze und akzeptieren die Rechtsordnung der Bundesrepublik, wie das der Zentralrat tut. Die Vertreter der Muslime müssen die Werte, die dieser Rechtsordnung zugrunde liegen, weltweit verteidigen. Aber zu all den Verbrechen, die im Namen des Islam verübt werden, schweigt sich der Zentralrat der Muslime aus.

Zweitens heißt es in der Charta, wir wollen keinen klerikalen Gottesstaat. Das ist ein geschickter Schachzug, denn es gibt im Islam keinen Klerus, somit auch keinen klerikalen Gottesstaat. Das war nicht einmal Afghanistan unter den Taliban, die Herrschenden dort waren vor allem Ingenieure. Man muss sich schon weltweit vom Konzept des Gottesstaates distanzieren und die zivile Rechtsordnung weltweit verteidigen, will man glaubwürdig sein.

Aber zumindest beim Thema Mann und Frau wird die Charta doch konkret.

Es wird gesagt, Männer und Frauen hätten gleiche Lebensaufgaben und das aktive und das passive Wahlrecht der Frauen würde akzeptiert – aber das sind nicht die Punkte, auf die es ankommt. Die sind selbst im Iran nicht umstritten.

Worauf kommt es denn dann Ihrer Auffassung nach an?

Es geht darum, ob der Zentralrat der Muslime die Frauen in allen Belangen der Gesellschaft mit allen Rechten als den Männern gleichberechtigt anerkennt. Dazu wird in der Charta allerdings nichts gesagt.

Sehen Sie es nicht als Fortschritt, wenn der Islamrat sagt, die Muslime in der Diaspora seien verpflichtet, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten?

Nun, der Artikel 10, der dazu Stellung nimmt, ist eher eine Kuriosität. Denn dort heißt es nur, Muslime müssten sich deshalb an Vorschriften der Visa-Erteilung, der Aufenthaltsgenehmigungen und Einbürgerung halten. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Es gibt aber andere wichtige Fragen, zu denen die Charta sich beharrlich ausschweigt. Zum Beispiel: Wie steht der Zentralrat zu gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, zum Sexualkundeunterricht, zum koedukativen Sport- und Schwimmunterricht? Das alles sind doch Fragen, die seit Jahren kontrovers diskutiert werden und wo eine Charta Klarheit hätte schaffen können.

Ist die Charta aber nicht zumindest eine geeignete Grundlage für einen Dialog zwischen der Minderheit der gläubigen Muslime und der Mehrheit?

Eine Diskussion auf Grundlage dieses Papier muss und kann geführt werden. Störend sind allerdings die Lobeshymnen, die nach Veröffentlichung der Charta zu hören waren. Die sind aber völlig verfehlt, weil sie den Charakter des Papiers verkennen, das an den zentralen, strittigen Fragen vorbeiformuliert wurde.

INTERVIEW: EBERHARD SEIDEL