Träume keine fremden Träume

Europa ist reich, weil es vielfältig ist. Doch hier liegt auch das Problem. Denn die Vielfalt muss gewahrt und Homogenität doch hergestellt werden

von WŁODZIMIERZ CIMOSZEWICZ

In der modernen Zivilisation gibt es „nicht einen, sondern gleich Hunderte von Leuchttürmen, die alle täuschen, irreführen, desorientieren, während wir selbst wie eine Mannschaft auf einem Schiff sind, dessen Navigationsgeräte ein Sturm zertrümmert hat und das nun ziellos über die Meere fährt“. Trifft diese Aussage des polnischen Schriftstellers Ryszard Kapuczinski zu, dann könnte die Europäische Union ein effektiver Wegweiser auf diesen Meeren werden.

Die gegenwärtige Debatte über die Zukunft Europas begann, als die Tinte der Unterschriften unter dem Vertrag von Nizza noch nicht getrocknet war. Zum Teil ist sie eine Folge der Unzufriedenheit über die ausgerechnet in einer Hafenstadt erzielten Ergebnisse. Besondere Dynamik bekam sie aber bereits durch die visionäre Rede von Außenminister Joschka Fischer an der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2000. Die Frage „Quo vadis, Europa?“ war eine natürliche Konsequenz solch europäischer Großprojekte wie der Einführung des Euros. Bei der Beantwortung dieser Frage hat der deutsche Außenminister den Anker weit ausgeworfen, so dass dieser tiefen Meeresboden erreicht hat. Manche warfen den Anker nicht so weit, und dieser reichte folglich nicht so tief. Andere schlugen vor, eine Schiffsflotte zu bauen, in der einige Schiffe nach vorn fahren, während die übrigen aus vielerlei Gründen hinten bleiben sollten.

Der Beitrag Polens zu dieser Debatte betrifft die demokratische Dimension der EU. In absehbarer Zeit müssen wir den Menschen in unserem Land erklären, wer in der EU für was verantwortlich ist und wie die Bürger daran beteiligt werden können. Es ist ja nicht erst heute bekannt, dass viele in der EU ein Defizit an Demokratie verspüren. Manche behaupten sogar, dass die EU, sollte sie einen Beitrittsantrag stellen, nicht in die EU aufgenommen würde, da sie keine funktionierende Demokratie sei.

Es gibt zumindest vier Bereiche, die es hier zu berücksichtigen gilt. An erster Stelle müssen die Nationalstaaten stehen, denn der Wille der Völker ist nach wie vor die Hauptquelle der demokratischen Legitimation europäischer Prozesse. Wir selbst haben viel zu tun, damit Transparenz, Verfügbarkeit und Lesbarkeit der Informationen über EU-Entscheidungen zu einer unerschütterlichen Regel werden.

Zweitens muss es jetzt darum gehen, eine Rivalität um die Entscheidungsbefugnisse in der Union zu entwickeln. Denn auf diese Weise wächst auch deren Legitimität. Hierher gehört die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission durch das Europäische Parlament.

Drittens gibt es das Problem der richtigen Vermittlung der auf der EU-Ebene getroffenen Entscheidungen. Schließlich gibt es viertens die Frage nach der Einbindung der Sozialpartner in richtungweisende EU-Maßnahmen.

Eine Jubiläumsausstellung, die neulich in einer der größten Warschauer Kunstgalerien stattfand, trug den Titel „Sei vorsichtig, wenn du deine eigenen Träume verlässt, denn du kannst schnell in fremde Träume hineingeraten“. Man sollte sich diese Worte des Meisters der Aphorismen, Stanislaw Jerzy Lec, merken, wenn man über die Zukunft der EU nachdenkt. Denn jedes Mitgliedsland bringt in die EU sein eigenes Erbe ein. Dies ist ein Reichtum und zugleich doch auch ein Problem, das sich zum Beispiel im komplizierten System der Entscheidungsfindung manifestiert, welches sich während des ganzen Integrationsprozesses entwickelt hatte und in Nizza noch komplizierter gestaltet wurde.

Ähnlich verhält es sich mit dem Föderalismus. Dieser erfreut sich derzeit keiner allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Unterstützung, obwohl die Wirtschafts- und Währungsunion ja eine föderalistische Lösung ist. Ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung, die schon immer ein Bollwerk der Souveränität war. Es gibt im heutigen Europa keine Voraussetzungen, um von einer europäischen Gesellschaft, einem europäischen Demos, zu sprechen, obwohl es sicherlich eine gemeinsame europäische historische und natürlich kulturelle Identität gibt.

Andererseits darf der Föderalismus als eine Sammlung von Regierungsprinzipien nicht abschrecken, denn er bedeutet ja keine Zentralisierung, wie es von vielen befürchtet wird. Es ist eine Methode, komplexe Probleme zu meistern. Wir sagen: so viel Vielfalt wie möglich und so viel Homogenität wie nötig. Eine Föderation in diesem Sinne ist etwas mehr als nur eine Summe einzelner Bestandteile. Dadurch unterscheidet sie sich von einer Konföderation, die ein Bündnis von Interessen ist, welche sich jederzeit ändern können. Der EU sind föderalistische Lösungsansätze immanent. Es bedeutet aber nicht, dass nun automatisch ein europäischer Bundesstaat gegründet wird. Dies ist derzeit wohl weder notwendig noch von den Bürgern erwünscht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass auch nach der breiten Ost- und Süderweiterung Europa gespalten bleiben wird. West- und Mitteleuropa dürfen jene nicht vergessen, die außerhalb der EU bleiben. Die beste Methode zur Unterstützung unserer Nachbarn im Osten und im Süden sollten gemeinsame Maßnahmen sein, die sich aber nicht allein auf die bilaterale Dimension beschränken dürfen.

Man kann die Verantwortung, die Deutsche und Polen für die Zukunft Europas tragen, nicht genug hervorheben. Das Bewusstsein um die gemeinsame Verantwortung für europäische Belange ändert die Qualität deutsch-polnischer Beziehungen. Beide Völker haben einen tief greifenden psychologischen und moralischen Wandel vollzogen und sich trotz der tragischen Vergangenheit miteinander verständigt und versöhnt. Diese Erfahrung dürfen sie nicht nur für sich selbst behalten. Polen und Deutschland sollten jetzt zu „Ausfuhrländern“ von Verständigung und Versöhnung werden.