Nur nicht bescheiden sein

Der Konvent sollte als Erstes diskutieren, warum wir in Zeiten der Globalisierung überhaupt eine EU brauchen

von ALAIN BARRAU

Sechs Länder – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande – unterzeichneten vor 45 Jahren in Rom zwei Verträge; der erste schuf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der zweite die Europäische Atomgemeinschaft. Welcher Weg wurde seitdem zurückgelegt! Mehr als 300 Millionen Europäer benutzen heute die gleiche Währung.

Jetzt ist die Erweiterung der EU eine Chance dies- und jenseits der künstlichen Grenze, die Völker und Familien für so lange Zeit getrennt hat. Damit jedoch die Integration von 12 neuen Ländern gelingt, muss die Union mehr Verantwortung übernehmen. Sowohl die Unzulänglichkeit der Institutionen für ein erweitertes Europa als auch die Herausforderungen der Globalisierung legen jedoch eine komplette Überholung und eine tiefe Reflexion über unsere Zukunft nahe. Wir müssen uns also an die notwendige Arbeit machen, zu überprüfen, was wir zusammen tun wollen. Die Entscheidung, einen Konvent zur Reform der Institutionen zu schaffen, markiert eine wirkliche Bewusstwerdung von Seiten der europäischen Führer. Sie haben damit beim EU-Gipfel von Laeken ein starkes politisches Signal ausgesandt. Ein Signal, das Europa brauchte, sich an die Gestaltung seiner Zukunft zu machen. Dieser Konvent, der den Kandidatenländern offensteht, sollte sich in meinen Augen in einem ersten Schritt einer Neudefinition des gemeinsamen Projekts widmen, bevor er mit den komplexen und schwierigen Verhandlungen über die institutionelle Architektur beginnt. Das ist eine delikate Aufgabe, die noch niemals realisiert wurde, und ich möchte als Mitglied des Konvents in einem ständigen Dialog mit den Bürgern und den Vertretern der Zivilgesellschaft stehen. Der Einsatz von neuen Technologien sollte diese kontinuierliche Demokratieübung, die ich mir wünsche, erleichtern.

Die Erklärung des EU-Gipfels von Laeken sieht vor, dass „der Konvent zur Aufgabe hat, die wesentlichen Fragen zu erörtern, die die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und nach unterschiedlichen, möglichen Antworten zu suchen“. Diese „wesentlichen Fragen“ verweisen auf vier Themen, die der Annex des Vertrags von Nizza beinhaltet und auf die der Konvent Antworten geben muss, die zugleich klar und ehrgeizig sind: Es handelt sich um die Verteilung der Kompetenzen, die Vereinfachung der Verträge, das Statut der Charta der Menschenrechte und die Rolle der nationalen Parlamente. Zugleich lädt uns die Erklärung von Laeken aber dazu ein, unser Mandat auszuweiten; es wäre künstlich, die Problematik des Politischen von der des Institutionellen abzutrennen. Es ist Zeit anzuerkennen, dass das eine nicht ohne das andere geht.

Die institutionelle Herausforderung ist vor allem die Herausbildung einer europäischen Staatsbürgerschaft, die heute nicht existiert. Sicher, die Gemeinschaftsmethode hat in der Vergangenheit wichtige Fortschritte bei der europäischen Konstruktion erlaubt; jedoch muss man feststellen, dass sie trotzdem auf der Stelle tritt. Lasst uns neue Regeln der Entscheidungsfindung ausdenken, um Europa die demokratische Legitimation zu geben, die ihm fehlt. Europa verdient es, dass man über eine akademische Debatte bezüglich der Anzahl der Sitze im Europäischen Parlament oder der Gewichtung der Stimmen im Rat hinausgeht. Ich unterschätze nicht die Bedeutung solcher Fragen, aber diesen Diskussionen muss eine wirkliche Debatte über die Rolle und die Mission dieser Institutionen vorausgehen. Hüten wir uns davor, die institutionelle Architektur des einen oder anderen Mitgliedstaates zu imitieren: Europa ist ein einzigartiges, institutionelles Modell, das aus der Aufnahme nationaler Kulturen hervorgeht.

Achten wir darauf, dem institutionellen System wieder mehr Kohärenz zu verleihen, einem System, das sich hin zu mehr Transparenz und Demokratie entwickeln muss. Die Kommission, die das Initiativrecht für europäische Regelungen hat, muss ihre wesentliche Funktion einer Exekutivgewalt der Union wiedererlangen, wohingegen der Ministerrat und das Europäische Parlament sich die Ausübung der Legislativgewalt teilen und so die politische Richtung der Union bestimmen sollen.

Diese politische Richtung fehlt zu oft. Dennoch, es gibt viele Arbeitsfelder, und die Perspektive der Erweiterung gibt klare Orientierungen vor: eine Weiterentwicklung des Budgets der Union, die Zukunft der gemeinsamen Agrarpolitik, eine Reform der Strukturfonds, eine europäische Verteidigung, Außenpolitik und gemeinsame Sicherheit etc. Eine Überprüfung der Verteilung der Kompetenzen zwischen Union und den Mitgliedstaaten führt den Konvent so unweigerlich dazu, die Widersprüche herauszuarbeiten, die es zu lösen gilt.

Wollen wir zusammen eine entscheidende Etappe hin zu einer politischen Union bewältigen? Zu einem mächtigen Europa, das fähig ist, seine Werte in der Welt durchzusetzen und seine Interessen zu verteidigen? Oder bescheiden wir uns mit einem Zugang, der die Union auf eine Freihandelszone reduziert? In den nächsten Monaten stehen in Deutschland und Frankreich bedeutende Wahlentscheidungen an. Ich hoffe, dass diese nationalen Wahlen endlich der europäischen Debatte eine Chance geben und den Wettstreit von Ideen und Projekten erlauben.

Übersetzung: Barbara Oertel