Der Mensch ist nicht konstruierbar

HumangenetikerInnen und PsychologInnen waren sich auf einem Berliner Kongress erstaunlich einig: Genetischen Determinismus gibt es nicht. Dissens wurde bei anderen Themen festgestellt: Gibt es eugenische Wirkungen von Gentechnik?

Krankheiten sind immer auch ein kulturelles Konstrukt

von UTE SCHEUB

„Gentherapie statt Psychotherapie?“ – so lautete, etwas provokant, der Titel eines interdisziplinären Kongresses, der am Mittwoch in der Freien Universität Berlin zu Ende ging. Organisiert von der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und der Gesellschaft für Gemeindepsychologische Forschung und Praxis diskutierten rund tausend PsychologInnen und HumangenetikerInnen fast eine Woche lang das Thema Gentechnik.

Hier herrschte Konsens: Der Streit, ob vor allem die Gene oder vor allem die Umwelt ein Verhalten prägen, hat sich in seiner alten Form erledigt. Es gibt keinen genetischen Determinismus. Verantwortlich für diese erstaunliche neue Einigkeit zwischen den hierob doch lange zerstrittenen Sozial- und NaturwissenschaftlerInnen sind die unbeabsichtigten Nebenwirkungen des internationalen Human Genom Projekt.

Es machte Schluss mit der bis dato geltenden deterministischen Gleichung: ein Gen = ein Eiweiß = eine Wirkung. Und es zeigte auf, wie unvorstellbar filigran und kompliziert das Zusammenspiel von Genen und Umwelt ist, um einen einzigen Menschen entstehen zu lassen.

Das Netzwerk zwischen Genen, Proteinen, biologischer und sozialer Umwelt sei „noch überhaupt nicht verstanden“, gab der Berliner Humangenetiker Karl Sperling zu. „Wir staunen über die gigantische Komplexität“, die selbst genetisch identische Zwillinge zu sehr unterschiedlichen Wesen lassen werden könne, ergänzte sein Fachkollege Ingo Kennerknecht. Gesundheit, hohes Alter, Intelligenz oder Schönheit seien, da multifaktorell bedingt, gentechnisch schlicht nicht herstellbar, schlussfolgerten die NaturwissenschaftlerInnen. Kein Genbastler auf dieser Welt werde den „idealen Menschen“ hervorbringen können.

Aber ebenso passé sei die Vorstellung aus den Siebzigerjahren, Neugeborene seien eine Art „Tabula rasa“, ergänzten die SozialwissenschaftlerInnen, die man per Umwelt und Erziehung zu jeder Form von Verhalten bringen könnte. Nur: Welchen genauen Anteil die Erbanlagen dabei haben und welchen die Umwelt, das musste weiter offen bleiben und lässt sich sicher auch nicht mit einer pauschalen Prozentzahl angeben.

Einigkeit bestand auch bei der Prognose, dass die Gentherapie am Menschen in Zukunft so gut wie keine Rolle spielen wird. „Aus Gründen, die wir noch nicht ganz verstanden haben“, so Humangenetiker Jörg Schmittke, funktioniere die Gentherapie beim „Tiermodell“ hervorragend, nicht aber beim Menschen. Es habe bisher 500 Versuche am Menschen gegeben, die mindestens zehn Tote verursacht hätten, ergänzte Medizinjournalist Klaus Dallibor, der Fall des 18-jährigen Jesse Gelsinger, der bei einem Versuch an der University of Pennsylvania, USA, gestorben war, sei nur der bekannteste. „Gentherapie statt Psychotherapie?“ – nein, wohl eher umgekehrt.

Konsens bestand auch darin, dass die Schere zwischen den Diagnose- und den Therapiemöglichkeiten der Gentechnik sich immer weiter öffnet. Bis zum Jahr 2005, schätzte Jörg Schmittke, seien alle monogenen, also alle durch ein einzelnes Gen verursachten Erkrankungen diagnostizierbar. Was aber haben die Patienten von einem Gentest, wenn ihre Krankheit nur in den seltensten Fällen therapierbar ist? Vielfach nur Angst und Schrecken: vor einem Ausbruch der Krankheit, vor einem Verlust des Arbeitsplatzes, vor höheren Versicherungsprämien.

Dennoch, glaubte der Humangenetiker, sei die weltweite Genetisierung der Gesellschaft mit allen ihren sozialen Folgen nicht mehr aufzuhalten. Lifestyle-Gentests und Test-Kits aus dem globalisierten Testmarkt seien bald überall zu haben.

Die paradoxe Folge des genetischen Screenings: Normierung und Individualisierung. Es entstünde eine Norm des Gesunden, deren Einhaltung immer mehr in die Verantwortung des einzelnen Individuums geschoben werde. Die Träger „schlechter Gene“ hätten Entsolidarisierung und Diskriminierung am Arbeitsplatz zu befürchten.

Soll man nach genetischen Ursachen von seelischen Erkrankungen suchen? Peter Propping, Humangenetiker an der Universität Bonn und Mitglied des Nationalen Ethikrates, glaubte bei seinem Vortrag einige Indizien für eine genetische Disposition bei Alkoholismus, Schizophrenie oder „Neurotizismus“ gefunden zu haben: Bei eineiigen Zwillingen erkranken häufiger beide Geschwister als bei zweieiigen. Wenn ein Zwilling an einer Panikstörung erkrankt sei, dann liege die Wahrscheinlichkeit für den anderen, ebenfalls die Krankheit zu bekommen, bei etwa 40 Prozent.

Der Befund kann jedoch jedoch auch andersherum interpretiert werden: Genetisch identische Personen reagieren keineswegs gleich, also spielt die Umwelt eine krankheits- oder gesundheitsfördernde Rolle. Letzteres aber, die Salutogenese, werde überhaupt nicht untersucht und nicht gefördert, schimpfte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Psychiatrie-Geschädigten, deshalb seien Proppings Forschungen „rausgeschmissenes Geld“.

Einige Psychiater und Humangenetiker gaben ihr unumwunden Recht: Krankheiten, zumal solche mit unscharfen Symptomen, seien immer auch ein „kulturelles Konstrukt“. Es sei vor allem die Pharmaindustrie, die mit allen Mitteln ein „Schizophrenie-Gen“ dingfest machen wolle: „Da wird ungeheuer viel Geld reingepumpt, das sich rentieren muss.“ Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft sei hier einseitig festgelegt und fördere fast nur biomedizinische Forschung, während sozialpsychologische Projekte brachlägen.

Gibt es eine eugenische Wirkung der Gentechnik? Die vorgeburtliche Diagnostik der letzten Jahrzehnte hätte einen „pränatalen Vernichtungsfeldzug“ geführt, schimpfte Gusti Steiner stellvertretend für viele Behinderte. Obwohl er selbst eine genetisch bedingte progressive Muskeldystrophie habe und auf den Rollstuhl angewiesen sei, lebe er „sehr erfüllt und offensiv“. Aber immer mehr Föten mit dieser Diagnose oder mit Down-Syndrom würden abgetrieben.

Hier könne doch nicht von einem „Feldzug“ im Sinne bewusster Eugenik die Rede sein, erwiderte der Psychotherapeut Bernhard Scholten. Doch Humangenetiker Jörg Schmittke und Psychotherapeut Michael Wunder sahen das anders: Zwar könnten den einzelnen Handelnden nichts Böses unterstellt werden, aber die Gesamtwirkung aller Handlungen sei eben doch eugenisch.

Wunder, Mitglied der Bundestags-Enquetekommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“, untermauerte seine Argumentation mit Zahlen aus einer Bundestagsdrucksache: 1973 hatten von 100.000 Neugeborenen gut 13 Kinder ein Down-Syndrom, 1990 waren es nur noch gut 8, inzwischen dürften es noch viel weniger sein. 95 Prozent aller Abtreibungen nach einem auffälligen pränatalen Testergebnis seien Down-Abtreibungen, ergänzte die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim.

Ist das nun Behinderten-Diskriminierung oder nicht? Hier steht Wahrnehmung gegen Wahrnehmung, verlässliche Studien gibt es dazu nicht. Früher seien behinderte Kinder ausgesetzt oder umgebracht worden, die Integrationsleistung der heutigen Gesellschaft sei doch enorm, meinte Margot von Renesse, Vorsitzende der Enquetekommission Medizinethik. Dem stehen Erfahrungen von Frauen entgegen, die ein Down-Baby austrugen und sich anhören mussten: „So was muss doch heute nicht mehr sein.“