„Es gieng wie öhl“

Für einen Mozartabend dirigiert der seit seinem vierten Lebensjahr an Polio erkrankte Geiger Itzhak Perlman erstmals die Berliner Philharmoniker

Der Stuhl empfängt den Geiger. Mühsam erarbeitet sich Itzhak Perlman den Weg. Auf Krücken gestützt, die Beinbewegungen mit eiserner Disziplin koordinierend: Er war als Vierjähriger an Polio erkrankt. Er gilt als einfühlsamer Gigant, als „Jahrhundertgeiger“, seit er er als 26-Jähriger die bis dahin als nahezu unspielbar geltenden 24 Capricen Paganinis aufnahm, die als EMI Classics erschienen sind. Er rückt sich zurecht, lässt die Krücken seitlich zu Boden gleiten. Dann empfängt er das weiße Kinntuch, die Geige, den Bogen. Eine ritualisierte Reihenfolge.

Seit 1972 spielt Itzhak Perlman mit den Berliner Philharmonikern, an diesem Abend wird er sie erstmals dirigieren. Perlmans massige Hände umfassen den Hals der Geige. Diese Hände, so heißt es, würden ihm komplizierteste Grifftechniken ermöglichen. Die ersten Töne des Allegro von Mozarts „Konzert für Violine und Orchester G-Dur“, KV 216, lösen sich silbrig von den Saiten. Mozart war 19 Jahre alt, als er seine heute als „Straßburger Konzert“ bezeichnete Komposition 1775 schrieb. Nach der Aufführung schrieb er dem Vater: „Es gieng wie öhl. Alles lobte den schönen, reinen Ton.“

Im Programmheft schreibt Wolfgang Burde von der Weite, der Großflächigkeit Mozarts. Er wirft Dirigenten wie Toscanini, Böhm oder Karajan vor, sie hätten mit ihrer eng gefassten Ideologie von Schönheit und Harmonie die „umfassende Originalität“ der Werke entstellt und das „kommunikative Potenzial“ Mozarts nicht erkannt. Ein herausfordernder, sehr europäischer Maßstab für den in Tel Aviv geborenen, aber ganz und gar amerikanischen Perlman. Er dirigiert mit dem Geigenbogen und physischen Gesten: einem Kopfnicken, mit dem Ellenbogen.

Nach den drei Sätzen erhebt sich der 57-Jährige, ein zeitlupenartiger Prozess, arbeitet sich hinaus, kommt wieder zur Verbeugung – ein über Jahre entwickeltes Zeremoniell. Dann ist er nur noch Dirigent. Wieder sitzt er, den breiten Rücken dem Publikum zugewandt: Die linke Hand breitet sich gestisch aus, mit forderndem Zeigefinger, greifenden schnellen Bewegungen. Er dirigiert Mozarts mit 16 Jahren komponiertes „Divertimento für Streicher“ in F-Dur. Die Divertimenti galten als „liebenswerte Klanggesten“, manchmal sind es skizzenhafte Vorgriffe auf spätere Werke. Vom Wunderkind geht Perlman zum Spätwerk über: „Adagio und Fuge C-Moll für Streicher“. Aber erst nach der Pause wird das Orchester für die „Jupitersinfonie“, die letzte Sinfonie des 32-jährigen Mozart, unter seinen Händen lebendig.

Perlman selbst, der auch Filmmusik spielt („Schindlers Liste“) und ein Album mit Jazzpianist Oscar Peterson aufnahm, liebt die zum Teil dramatischen Melodielinien der klassischen Komponisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bei zeitgenössischen Komponisten beklagt er, die Musik für Streicher sei „zu perkussiv, zu wenig lyrisch“. So überlässt auch er die Vermittlung von Mozarts kommunikativem Potenzial anderen und zeichnet erneut das gewohnte Bild des ikonisierten Genies. Auf die Frage, ob er denn heute Abend seine „Sauret“-Guarneri-des-Gesù-Geige von 1740 gespielt habe oder seine „Soil“-Stradivari von 1714, antwortet der Ehrendoktor von Harvard und Yale trocken: „The Strad.“

MAXI SICKERT

Samstag und Sonntag, 20 Uhr, Philharmonie, Herbert-von-Karajan-Platz, Tiergartenstraße (Samstag ausverkauft)