Der Schocktherapeut

Finanzsenator Sarrazin (SPD) kritisiert die Mentalität der Berliner: Nirgendwo schlurfen so viele Menschen in Trainingsanzügen herum

„Ein Geschäft funktioniert und das andere eben nicht“

von ROBIN ALEXANDER
und RICHARD ROTHER

taz: Herr Sarrazin, mit Ihrer Beschreibung der Finanzlage haben Sie die Stadt geschockt.

Thilo Sarrazin: Ja. Und das hat mich erstaunt. Denn wer in Berlin in den vergangenen Jahren wachen Auges gelebt hat, musste eigentlich Bescheid wissen.

Jahrelang war in Berlin Konsens, die Probleme der Stadt hätten historische Ursachen. Nun kommen Sie und sagen: Berlin ist selbst schuld.

Die ohne Frage vorhandenen historischen Ursachen wurden von vielen Verantwortlichen als Ruhekissen für das eigene Denken benutzt.

Hätte das Ruhekissen nicht schon viel früher weggerissen werden müssen?

Es hat keinen Sinn mehr, jetzt auf die Vergangenheit zu schauen. Wäre ich im Jahr 1991 Regierender Bürgermeister gewesen, hätte ich allerdings schon einiges anders gemacht. Aber: So wie ich bin, wäre ich in Berlin im Jahre 1991 in keine öffentliche Funktion gekommen.

Warum?

In Berlin gab es ein kollektives Bewußtsein, alle Probleme seien durch Expansion und durch fremde Gelder lösbar. Das hat dazu geführt, dass bestimmte grundlegende Entscheidungen in Berlin anders getroffen worden sind als etwa in Sachsen oder in Thüringen. In Ostberlin hat man den öffentlichen Dienst unverändert übernommen und hat auch in Westberlin noch viel zu lange expansive Personalpolitik betrieben. Berlin hat nie versucht, seine Ausgaben an das anzupassen, was im vereinten Deutschland möglich ist.

Sie argumentieren gerne mit vergleichenden Statistiken, stellen Berlin als Stadtstaat und vielfach zerrissenes Gemeinwesen neben Flächenländer und Kommunen, die sich Jahrzehnte ruhig entwicklen konnten. Vergleichen Sie nicht Äpfel mit Birnen?

Ich vergleiche Euro mit Euro. Ein Beispiel aus dem Privatleben. Nehmen wir zwei Privathaushalte, die beide ein Einkommen von 2.000 Euro haben. Der eine wohnt in Marzahn in einer 70 qm-Wohnung für 400 Euro Miete und fährt einen alten Golf, der ihn 200 Euro im Monat kostet. Der andere hat eine Eigentumswohnung in Wilmersdorf mit 1.500 Euro Monatsbelastung und fährt einen neuen Mercedes. Natürlich kann ich Marzahn und Wilmersdorf nicht vergleichen und nicht den Golf mit dem Mercedes. Das wären Äpfel und Birnen. Ich kann aber sehr wohl sagen, dass der eine mit seinem Geld auskommt und der andere nicht.

Die Stadt Berlin fährt also bei kleinem Einkommen Mercedes.

Und wohnt in Wilmersdorf.

Gilt das für beide Teile der Stadt?

Ja. Im Osten ist die intensive Personalausstattung im öffentlichen Dienst absolut Mercedes-like. Jedenfalls vom Input her. Vom Output weniger, genau wie im Westteil Berlins.

Im Ernst: Kann man die soziale Wirklichkeit einer Stadt allein mit Zahlen beschreiben?

Natürlich nicht. Aber ich bin nicht der Sozialsenator, sondern der Finanzsenator. Meine Aufgabe ist es, Einnahmen und Ausgaben ins Lot zu bringen.

Glauben Sie, dass Ihre Schocktherapie Wirkung zeigt?

Ich habe den Eindruck, einige haben begriffen, was ich meinte. Andere haben es mit dem Intellekt verstanden, aber noch nicht mit dem Herzen. Botschaften, die zu Handlungen führen, gehen aber übers Herz. Da bleibt also noch viel zu tun.

Wie wollen Sie die Herzen der Berliner erreichen?

Jeder, der sein Anliegen vom Sparen ausnimmt, schadet langfristig eben diesem Anliegen. Immer weiter steigende Zinsausgaben würden uns letztlich jede Möglichkeit nehmen, überhaupt noch Geld sinnvoll auszugeben.

Können Sie das Mittel Schock bei der nächsten Sparrunde wiederverwenden? Nutzt sich das nicht ab?

Ich habe doch nur Tatsachen aneinandergereiht! Die wirken in der Tat düster. Aber von Katastrophe oder ähnlichem habe ich nie gesprochen. Was Berlin lernen muss ist: Genau wie ein Privatmann können wir auf einem Gebiet mehr ausgeben, als es unseren Einkommensverhältnissen entspricht. Aber nur, wenn wir auf anderen Gebieten weniger ausgeben. Also: Entweder wir leisten uns mehr Sozialausgaben, dafür haben wir weniger im Bereich Hochschulen und Polizei. Oder: Mehr Polizei, dafür weniger Hochschulen und Soziales. Aber nicht alles gleichzeitig!

Werden die Prioritäten schon im jetzt anstehenden Haushalt für 2002 und 2003 gesetzt?

Die Norm für den Doppelhaushalt steht: Wir kürzen die konsumptiven Sachausgaben um 720 Millionen Euro. Wie sich das auf die einzelnen Ressorts verteilt, ist intern vereinbart. Zur Zeit werden die Einzelhaushalte der Ressorts aufgestellt. Wir werden sehen, ob alle die Vorgaben erreichen oder ob noch Handlungsbedarf bleibt.

In den Gesprächen mit den Ressorts kommen Sie also voran?

Wir kommen mit einem gewissen Ächzen voran. Aber wir kommen voran. In diesem Jahr wird es im Unterschied zu allen Haushalten der vergangenen Jahre keine erkennbaren Unterveranschlagungen bei den Ausgaben oder Überveranschlagungen bei den Einnahmen geben. Bisher wurden ja immer Annahmen geschönt, um Löcher im Haushalt zu schließen. Diesmal werden die Zahlen ehrlich sein.

Noch ist Ihr ehrlicher Haushalt nicht aufgestellt.

Wenn wir es nicht schaffen, werden Sie es am 19. März um 14 Uhr in der Senatspressekonferenz von mir erfahren.

Das strukturelle Problem liegt bei den hohen Personalkosten.

Ja. Und deshalb nehmen wir nur noch politisch vereinbarte Einstellungen im Bereich Polizei und Lehrer vor. Alle übrigen Personalabgänge werden nicht mehr ersetzt. Das führt zu Einsparungen. Für weitere Einsparungen müssten wir auch Polizisten und Lehrer einbeziehen. Das werden wir auch tun, wenn wir uns nicht auf andere Wege im Rahmen des Solidarpakts einigen. Wir brauchen jetzt freiwillige Lohnverzichte. Denn alles, was wir ohne Lohnverzichte oder Kündigungen bei den Personalkosten erreichen konnte, haben wir schon rausgeholt.

Kann sich Berlin überhaupt flächendeckend weniger Personal leisten?

Wir haben vierzig Prozent mehr Polizei pro Einwohner als Hamburg. Übrigens ohne eine bessere Aufklärungsquote, obwohl die Kriminalitätsbelastung in beiden Großstädten vergleichbar ist. Wir haben auch eine deutlich höhere Lehrerdichte als Bayern oder Rheinland-Pfalz, werden aber in wenigen Monaten sehen, dass wir bei der Pisa-Studie am Ende der Bundesländer stehen. Offenbar ist der Unterrichtserfolg einer Berliner Lehrerstunde nicht so hoch wie der Erfolg einer Lehrerstunde anderswo. Meine Söhne waren in Mainz und in Berlin auf der Schule. In Berlin werden oft vierzig Prozent der Unterrichtszeit gar nicht mit Unterricht verbracht. Die Hausaufgaben werden auch nicht ordentlich kontrolliert.

Welche Berliner Schule haben Ihre Söhne besucht?

Eine Schule in einem Gebiet mit geordneten sozialen Verhältnissen und einem Ausländeranteil von maximal drei Prozent.

Haben Sie eine Erklärung für ihre Beobachtung?

Westberlin hat über die langen Jahrzehnte der Teilung seine Leistungsorientierung etwas aus den Augen verloren. Die Berliner Verwaltung hat dreißig Prozent mehr Personal, produziert aber deutlich längere Wartezeiten auf den Ämtern als andere Verwaltungen. Die Qualitätsmaßstäbe im Westberliner Bauwesen waren niedriger als die in der übrigen Bundesrepublik. Das geht bis zu den Taxifahrern: Allein in Berlin darf man nur das erste Taxi am Taxistand besteigen, weil sich die Fahrer gegenseitig keine Konkurrenz machen. Nirgendwo sieht man so viele Menschen, die öffentlich in Trainingsanzügen herumschlurfen wie in Berlin. Obwohl das Durchschnittseinkommen etwa in Dresden auch nicht höher ist, verwendet der Dresdner mehr Sorgfalt auf sein Äußeres.

Wie kommt das?

Das alles ist Ausdruck einer Grundmentalität in dieser Stadt. Die äußert sich auf vielen Gebieten. Das geht bis hin zur Sauberkeit dieses Zimmers. Ich mache einen Test: (Sarrazin steht auf, geht in eine Ecke seines Amtszimmers, wischt mit gestrecktem Zeigefinger über eine Leiste auf dem Boden und zeigt Staub)

Das kommentiert sich von selbst.

Die Stadt wird durch unfähige bis kriminelle Bankmanager ruiniert und sie reden übers Putzen?

Der Anteil der Betrugsabsicht und des bewussten Handels zum Schaden Dritter ist nach meiner Überzeugung beim Komplex Bankgesellschaft klein und trat erst am Ende auf, als man versuchte, Fehler zu verbergen. Vorher wurden Geschäfte mit mangelhafter Kompetenz konzipiert, unzureichend durchgeführt und praktisch nicht kontrolliert.

Angesichts der vernichteten Steuergelder: Ist das nicht kriminell?

Nein. So ist das Geschäftsleben: Ein Geschäft funktioniert und das andere eben nicht. Edzard Reuter hat gemessen am Aktienkurs in seinen wenigen Vorstandsjahren bei Daimler-Benz auch Milliarden Euro Kapital vernichtet. Sein Nachfolger Schrempp ist – zählt man Fokker und Chrysler dazu – jetzt auch schon in dieser Dimension. Aber wegen der Bankgesellschaft kann man doch nicht das ordentliche Putzen einstellen!

„Ich bin nicht der Sozialsenator, sondern der Finanzsenator“

Sie Sehen also keinen Wandel der Berliner Grundmentalität?

Doch schon: mit kommenden Generationen. Aber schon heute müssen wir aber beantworten, was Berlin sich noch leisten will. Ohne eine solche Entscheidung werden wir in sehr kurzer Frist in der Konsolidierung scheitern.

Wie wird die Berliner Verwaltung effizienter?

Durch eine bedarfsgerechte Verkleinerung. Meine Erfahrung ist: Eine Einheit arbeitet um so besser, je weniger bürokratische Überarbeitsteilung sie intern hat. Wir müssen Aufgaben funktionsgerecht zuordnen, dann sinkt der Bedarf an Mitarbeitern und die Verwaltung wird gleichzeitig bürgerfreundlicher. Deshalb wollen wir den Prozess der Stelleneinsparung durch eine Verwaltungsreform begleitet.

Sie wollen sich um Bundeshilfen bemühen, obwohl Berlin selbst noch so viel Handlungsbedarf hat?

Das Finanzthema teilt sich in zwei Themen. Thema eins: Wir müssen unsere Ausgaben unseren Einnahmen anpassen. Diese Aufgabe kann uns niemand abnehmen. Thema zwei: Die Schulden, die bisher aufgelaufen sind und in den nächsten Jahren noch auflaufen werden, kann Berlin selbst nicht zurückzahlen. Und die Zinsen dafür können wir uns auch nicht mehr leisten. Hier brauchen wir Hilfe vom Bund oder von den anderen Bundesländern.

Wie bekommt Berlin diese Hilfe?

Wir prüfen zur Zeit, wie wir unseren Anspruch auf Hilfe beim Schuldendienst umsetzen. Der Bund wird sich nur auf der Basis von eindeutigen Rechtspflichten in solche Zahlungen begeben. Der Fall Berlin ist als solcher aber beispiellos. Deshalb wird es am Ende auf eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hinauslaufen.

Wann ist der Zeitpunkt für eine solche Klage gekommen?

Wenn wir den Verhandlungsweg ausgeschöpft haben und außerdem eigene Konsolidierungserfolge nachweisen können.

Ihre Vorgängerin Christiane Krajewski hat sich in kurzer Amtszeit hohes Ansehen erworben. Sie galt als Kommunikationstalent. Sind Sie auch ein Kommunikationstalent?

Das ist mir nicht wichtig, schließlich bin ich kein Entertainer. Die Botschaften, die ich für wichtig halte, versuche ich zu vermitteln. Ich glaube, dass ist mir bisher gelungen. Nun muss ich durchsetzen, was notwendig ist. Nur darum geht es.

Ohne die Rückendeckung des Regierenden Bürgermeisters werden Sie das nicht schaffen.

Heute kann kein Regierender Bürgermeister ohne solide Finanzen dauerhaft Erfolg haben.

Sie können nicht ohne Wowereit, aber Wowereit kann auch nicht ohne Sie?

Berlin kann nicht ohne Haushaltskonsolidierung.