Narziss bleibt großzügig

Nach einjähriger Bewährungsstrafe gewinnt Tim Lobinger bei der Hallen-EM in Wien den Stabhochsprung und hofft, dass es weiter aufwärts geht, am besten in bereits erlebte Höhen

aus Wien ROBERT HARTMANN

Die Stabhochspringer bilden eine der kleinsten Berufsgruppen der Welt, aber wenn sie sich mit ihren biegsamen Stäben wie in einem unsichtbaren Fahrstuhl in die Luft katapultieren, ist das staunende Publikum gerne bereit, seinen Obulus zu entrichten. Am Samstagnachmittag schwang sich der 29 Jahre alte Tim Lobinger von der Frankfurter Eintracht in der Wiener Ferry-Dusika-Halle bis auf 5,75 m hinauf, und weil seine höhengleichen Konkurrenten Patrik Kristiansson aus Schweden und Lars Börgeling aus Leverkusen dort oben mehr Fehlversuche hatten, erhielt er dafür die Goldmedaille der Hallen-Europameisterschaften.

Das Gefühl kannte Lobinger noch von der EM in Valencia vor vier Jahren. Große Tage waren das für ihn, die er in jüngster Vergangenheit mehr denn je zu schätzen lernte. Denn zwischendurch war ihm das Fluggefühl verloren gegangen – und es war besonders bei den nationalen Titelkämpfen im vorigen Sommer im Stuttgarter Daimler-Stadion schrecklich. Damals wurde der Mann mit dem Schwalbennest auf dem Kopf nur Fünfter – und er war kein guter Verlierer. Dem jungen Sieger Richard Spiegelburg aus Leverkusen billigte er lediglich das Erlebnis einer „Sternstunde“ zu, und noch sei in der Mannschaftsbesetzung für die anstehenden Weltmeisterschaften in Edmonton nichts entschieden. Lobinger bemerkte nicht, dass ihm bald nur noch mit zunehmendem Unernst zugehört wurde. Er blieb also von der WM daheim, entschuldigte sich und sprach jetzt, acht Monate später, von einer „Bewährungsstrafe“.

Auch so viel offen dargestellte Selbsterkenntnis ist selten. Seine Technik habe nicht mehr gestimmt, Stück für Stück sei es nach unten gegangen. Der noch ein Jahr jüngere Trainer Michael Kühnke redet Lobinger seit dem Spätherbst wieder stark, und das Training schlug wieder derart an, dass „alle Zubringerleistungen besser denn je“ seien. Das heißt, dass der Sechsmetersprung von 1997 in seiner schon mehr als ein Jahrzehnt umspannenden Karriere nicht der letzte gewesen sein muss. Das Gold von Wien habe ihm jedenfalls „Fahrtwind“ für die Zukunft mitgegeben.

Wenn wundert es da, dass Lobinger seine Kollegen Leichtathleten schalt, die aus freien Stücken von Wien fern blieben, weil sie sich auf die Europameisterschaften im August in München konzentrieren wollten. „Das halte ich für Quatsch“, sagt Lobinger, andererseits entspricht die Vielstarterei seinem Naturell. Außerdem zählt, dass er verheiratet ist, zwei Kinder hat und nach dem Abitur nur diesen Beruf erlernt hat. Und natürlich, dass seine persönliche Pensionsgrenze nicht mehr sehr weit entfernt sein dürfte. Da gilt es, sich an Voltaires Fabel von der verspielten Grille und der fleißigen Ameise zu erinnern. Also, der Wettkampf ist lebensnotwendigerweise der Arbeitsplatz, Lobinger darf dort nicht oft fehlen. Kühnke habe ihn nun immerhin überzeugen können, erzählte er, im Vorfeld von Titelkämpfen doch mal einen Start auszulassen.

Der Athlet ging wieder großzügig mit sich um, und nun darf der Narziss in ihm auch wieder auffallen: In Wien teilte er mit, er habe, auf der Suche nach neuen Attraktionen, ein Trikot geschneidert nach dem Vorbild der ärmellosen Hemden der Kameruner Fußballer, die damit wieder Afrikameister wurden. Nun ja, ein bisschen Grille kann nie schaden.