Gefährliche Notwendigkeit

Die Beteiligung von NGOs am EU-Konvent ist eine wichtige Neuerung. Aber sie birgt auch erhebliche Gefahren für die sozialen Bewegungen, die hinter den NGOs stehen

Bewegungskultur braucht offene Foren statt formalisierte Anhörungen, sie braucht Zeit zur Entwicklung

In der vergangenen Woche begann der so genannte Verfassungskonvent mit der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union. Bei der Gestaltung der Versammlung haben Parlamentarier und Regierungen Erfahrungen berücksichtigt, die bei der Erarbeitung der EU-Grundrechtscharta gemacht wurden. Die damals praktizierte Teilnahme von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Verbänden und Bürgerinititativen wird von allen Beteiligten als wichtige Neuerung gepriesen. Politiker versprechen sich größere Akzeptanz, die NGOs sehen ihre Einflussmöglichkeiten verbessert. Das ist neu: Bisher ersetzten massive Werbekampagnen oft öffentliche Debatten über europäische Angelegenheiten. Kritische Stimmen fanden wenig Gehör.

Doch so konstruktiv es ist, dass nun auch soziale Bewegungen ihre Meinung vortragen dürfen – die Kritik der NGOs bezieht sich meist auf Missstände und Defizite und kaum auf die Pros und Contras des Integrationsprozesses an sich. Spannende Fragen – wie die nach Geschwindigkeit, Art und Umfang der Europäischen Erweiterung – und Vertiefung bleiben außen vor, EU-Kritiker und -Gegner kommen weiterhin nicht zu Wort. Wirklich kontroverse Debatten finden nach wie vor jenseits offizieller Anhörungen statt. Inzwischen sind bei vielen Gipfeln – ob von EU, WTO oder G 8 – Globalisierungskritiker, Jugendliche, Erwerbslose, Migranten und Gewerkschafter lautstark präsent, um Regierungsvertreter und Öffentlichkeit mit ihren Forderungen zu konfrontieren.

Ihr Protest würde wahrscheinlich weitgehend verpuffen, wenn er nicht durch Zusammenarbeit mit etablierten NGOs begleitet würde. So machen etwa Aktionscamps an den Außengrenzen der Europäischen Union auf die Situation von Asylbewerbern aufmerksam – gleichzeitig nimmt Pro Asyl dazu bei parlamentarischen Anhörungen Stellung. Die Euromärsche fanden statt, um Massenerwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung anzuprangern – während die Menschenrechtsorganisation Fian im EU-Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtscharta soziale Rechte einforderte.

Diese Art der Arbeitsteilung hat Vorbilder: etwa die Umweltbewegung. Bereits Mitte der Siebzigerjahre beschloss man, mit einem Dachverband in Brüssel vertreten zu sein. Man hatte erkannt, dass lokale Protestaktionen nicht mehr ausreichten. Das Europäische Umweltbüro hat sich seither weiterentwickelt und wurde bald durch andere Organisationsformen ergänzt. Heute reicht das Instrumentarium, mit dem Entscheidungsprozesse beeinflusst werden, von den nationalen Vertretungen der Gründungsorganisationen bis zu spezialisierten Anwälten im Umweltrecht, Netzwerken wie dem WWF oder Lobbybüros einzelner Organisationen wie Greenpeace.

Professionalisierung ist unumgänglich in der Zusammenarbeit mit Institutionen legitim und inhaltlich substanziell wird die Arbeit der Hauptamtlichen aber nur, wenn der Bezug zur lokalen, aktionsorientierten Basis und zu den organisierten Mitgliedern nicht verloren geht. Ohne die konkrete Arbeit der Naturschutzinitiativen vor Ort können NGO-Funktionäre in Brüssel die EU-Kommission kaum überzeugen. Aber die Arbeitsteilung und räumliche Entfernung zwischen Büros in Brüssel und lokalen Aktivitäten birgt die Gefahr, dass sich Funktionäre und Basis voneinander abkoppeln. Damit wird aber die Kritik am herkömmlichen Politikstil fragwürdig, selbst wenn die inhaltliche Ausrichtung unverändert bleibt.

Die aktuellen Themen – Globalisierung und EU-Erweiterung – bringen zudem praktische Probleme mit sich: Es ist aufwändiger, auf europäischer Ebene oder weltweit zu mobilisieren als in gewohnten nationalen Zusammenhängen. Menschen nach Hamburg, Berlin oder Frankfurt zu bringen ist leichter, als sie zu Fahrten nach Brüssel oder Johannesburg zu motivieren. Aktivitäten auf Ebene der Vereinten Nationen oder bei WTO bleiben oft ganz auf Funktionsträger beschränkt. Neue Partner, Sprachbarrieren, große Entfernungen, Unterschiede der politischen Kulturen – dies alles erschwert die koordinierte Arbeit. Zudem ist für viele Menschen nicht fassbar, was in großen Institutionen wie etwa der EU verhandelt wird. Das öffentliche Interesse nimmt daher nur bei Skandalen zu und ist selten nachhaltig, wie die Ökologiebewegung gerade bei BSE erfahren musste. Ein neuer Skandal in Europa kann über die deutschsprachige Mitgliederzeitung noch transportiert werden. Um die EU-Öffentlichkeit zu erreichen, müssten Radio Fernsehen gewonnen werden. Europaweite Medien gibt es noch immer nicht, und die Fixierung deutscher Redaktionen auf nationale Themen erschwert die internationale Berichterstattung. Allerdings lässt sich bei den Protestbewegungen ein Lernprozess beobachten. So sind die Gipfel der EU-Regierungschefs zum Ende einer Ratspräsidentschaft zum festen Aktionstermin geworden. Leider bleibt die öffentliche Wahrnehmung oft beschränkt auf Ausschreitungen, an denen Medien mehr Interesse zeigen als an Forderungen.

Wie soll der Konvent nun Bürgerbeteiligung organisieren? In Brüssel ist ein unüberschaubares System von Einfluss und Ausschluss, von finanzieller Zuwendung und Anhörungsmodalitäten entstanden. Die Professionalisierung und Etablierung neuer sozialer Bewegungen hat bewirkt, dass ihre Arbeit oft an Lobbyismus erinnert. Ähnlich wie Wirtschaftsverbände konkurrieren NGOs um Einfluss. In der Kommission wird daher über eine förmliche NGO-Akkreditierung nachgedacht, um ihnen mehr Legitimation zu geben. Der Europarat arbeitet bereits mit einer solchen Akkreditierung.

Offene Zugänge für neue soziale Bewegungen müssen aber gewährleistet bleiben, sonst wird der Professionalisierungs- und Anpassungsdruck zu groß. Gleichzeitig steigen Ausgrenzungs- und Abkopplungsgefahren. Würde sich die Beteiligung von NGOs darauf beschränken, dass einzelne Repräsentanten der Zivilgesellschaft in die europäischen Institutionen aufgenommen werden, dann brächte dies kaum wirklichen Fortschritt. Bewegungskultur braucht offene Foren statt formalisierte Anhörungen, sie braucht Zeit zur Entwicklung.

Die Professionalisierung der sozialen Bewegungen bewirkt, dass ihre Arbeit an Lobbyismus erinnert

Nationale und transnationale Debatten müssen so gestaltet sein, dass Lösungen gemeinsam gefunden und Fragesteller nicht mit fertigen Antworten abgespeist werden. Basisorientierte Organisationen müssen ihre Mitglieder für solche Beratungsprozesse gewinnen und sie nicht nur mit Informationen zu versorgen. Internet und E-Mail-Infodienste haben sich als effizientes Instrument erwiesen – ein Ersatz für Kontroversen sind sie nicht.

In der Erklärung von Laeken, die dem Verfassungskonvent als Rahmen dient, wurden eine Menge offener Fragen zur Zukunft Europas gestellt. Der anstehende Diskussionsprozess wird Aufschluss darüber geben, welche Fortschritte in politischer Streitkultur erzielt worden sind. Allerdings weisen die aktuellen Vorschläge von Schröder und Blair eher darauf hin, dass die Fragen bereits beantwortet sind bevor die Debatte darüber beginnen kann. THOMAS FIEDLER