Hass-Rhetorik fordert weitere Opfer

Die blutigen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen im westindischen Bundesstaat Gujarat dauern an. Zwar hat die Polizei den Mob in den Großstädten weitgehend gestoppt. Doch nun weiten sich die Unruhen auf bisher ruhige Regionen aus

aus Delhi BERNARD IMHASLY

„Eine Schande für die Nation“, nannte der indische Premierminister A. B. Vajpayee die Morde und Plünderungen im westlichen Bundesstaat Gujarat seit dem 27. Februar. In einer Fernsehansprache am Samstag appellierte er an alle Bürger, sich auf menschliche Grundwerte von Frieden und Brüderschaft zu besinnen. Er fügte hinzu, der Staat werde alles unternehmen, um die Gesetze durchzusetzen.

Tatsächlich hat der Auftritt der Armee und der massive Feuereinsatz der Polizei die Ausschreitungen in den Großtädten, besonders in der Industriemetropole Ahmedabad, bis zum Sonntag weitgehend erstickt. Aber auf den ruhigen Straßen und ersten geöffneten Läden lastet weiter eine nervöse Spannung. In der Nacht vom Samstag entlud sie sich in der muslimisch beherrschten Altstadt vereinzelt in Schüssen und Brandbomben. Doch statt endgültig abzuebben, scheinen sich die Unruhen nun auch in bisher unbelastete Gebiete zu verlagern.

In Bhavnagar in der Region Saurashtra kam es zu Brandschatzungen von Läden und Häusern, die Muslimen gehörten. In der Stadt Vadodara wurden am Samstag acht Menschen getötet. Im Mehsana-Distrikt starben 28 Menschen, die von einem Mob in ihre Häuser getrieben wurden, die daraufhin in Flammen aufgingen.

Ähnlich erging es Muslimen in Pandervada, einem Dorf etwa eine Fahrstunde von Ahmedabad. 30 Menschen kamen ums Leben, 40 wurden mit teilweise schweren Verbrennungen in die überfüllten Kliniken eingeliefert. Allein im Civil Hospital wurden bis zum Samstag 127 Tote registriert. Die Opferstatistik nähert sich der Zahl von 500, wobei immer mehr Tote auf das Konto der Polizei gehen, die ihr früheres Abseitsstehen mit umso größerer Härte kompensiert.

Die Rhetorik des Hasses, mit der der „Welt-Hindu-Rat“ VHP die Flammen der Gewalt neu entfacht hat, hat nur in Gujarat ein derart blutiges Echo ausgelöst. Dies hat zweifellos auch damit zu tun, dass Gujarat der einzige bedeutende Staat ist, in dem die BJP nach ihrer Wahlniederlage im größten Bundesland Uttar Pradesh noch am Ruder ist.

Der Aufruf des Premiers und die Unterschrift der BJP unter einen Friedensappell aller Parteien zeigen, dass die Partei versucht, ihre, in Gujarat kompromittierte, Rolle als Regierungspartei und Wahrerin der Gesetze wieder herzustellen.

Die mit ihr verbundenen Hindu-Organisationen wie der ideologische Kaderverband RSS und der Kampftrupp des VHP zeigen wenig Einsicht und Reue für ihre fatale Rolle bei den Ausschreitungen. Der RSS gibt sich bemüht, zwischen Regierung und VHP ein Verständigung herbeizuführen. Doch ist dies ein taktisches Manöver, um zu verhindern, dass die BJP-Koalitionspartner die Regierung verlassen und damit zum Sturz bringen.

Der VHP gibt bekannt, er sei kompromissbereit, solange der Gegenspieler auf seine Forderungen eingeht. Die führenden Politiker der BJP sind vom Regierungschef abwärts Mitglieder des RSS. Die Frage ist, welche Identität Vorrang hat: jene des Bürgers, oder des Hindus.