Im Auge der Technik

Wahrnehmungsebenen vermischen sich, und Konzerte oder Filme können plötzlich durchschritten werden: Arbeiten der kanadischen Künstler und Biennale-Teilnehmer Janet Cardiff und George Bures Miller im Hamburger Bahnhof

Was das Auge sieht, ist oft ein Trugbild. Hinter der bloßen Optik verbirgt sich manchmal eine weitere Realität. Bebilderten die Surrealisten diese Erkenntnis mit malerischen Mitteln, bieten Hightech-Akustik und am Computer koordinierte Programmabläufe ganz andere Möglichkeiten. Mit ihnen schaffen die kanadischen Künstler Janet Cardiff und Georg Bures Miller verwirrende Installationen. Als Vexierspiel aus mehreren Wahrnehmungsebenen bauen die beiden Teilnehmer der Biennale in Venedig ihre „Audio Walks“. In den begehbaren Skulpturen verbergen sich hinter dem unmittelbar Erblickten und Gehörten andere Systeme der Kunst.

Aus 40 Lautsprechern, kreisrund angeordnet im oberen parkettbelegten Raum des Hamburger Bahnhofes, erklingt ein Chor. Beim Gehen im Raum versinkt die Stadt im Klang. Vor den schalldichten, doppelt verglasten Fensterscheiben färbt sich der Himmel orange, drinnen intonieren 40 Vokalartisten die „Forty part motet“. Zunächst sind einzelne Stimmen zu hören, dann schwillt der vielstimmige Gesang an, schließlich erfüllt ein betäubender Klangteppich den kahlen Saal. Thomas Tallis komponierte das Stück im 17. Jahrhundert für Aufführungen in Kapellen und Kirchen. Wegen seiner vierzigstimmigen Harmonie für acht fünfstimmige Chöre gilt es als kaum aufführbar. Cardiff und Miller haben jeden Part mit einem gesonderten Mikrofon aufgenommen und digital gespeichert. 40 Hightech-Lautsprecher lassen den klanglichen Unterschied zwischen steinernem Kirchenraum und Museumskoje schrumpfen. Der Rezipient kann das Choralwerk schlendernd durchschreiten.

Durchaus im Sinne von Tallis hört er so die einzelne Stimme unmittelbar an der Membran oder er konzentriert sich auf den Gesamteindruck in der Mitte des Kreises. Die Überlagerung des musealen Arrangements durch die Referenz an die kirchliche Liturgie kommt den beiden Künstlern gelegen. Denn stets thematisieren sie in ihren Arbeiten die Durchdringung von subjektiver Wahrnehmung und äußerer Inszenierung.

Das gilt auch für die zweite im Hamburger Bahnhof gezeigte Arbeit „The Paradise Institute“. Dort verbirgt sich in einer schlichten Holzkonstruktion ein Kino im Miniformat. Vor dem Betreten der Box fordert die Museumsangestellte: „Bitte schalten Sie Ihr Handy aus.“ Als dann tatsächlich ein Handy klingelt und eine Stimme erklärt: „Bin im Kino“ (allerdings auf Italienisch), wird klar, dass auch die Bitte ein Teil des ausgeklügelten Arrangements war. Denn nach dem Betreten des Containers verlischt das Licht, und vermittels eines Kopfhörers fühlt sich der Besucher an einen anderen Ort, nämlich einen Kinosaal, versetzt inklusive Popcorngeraschel.

Um das Ereignis möglichst plastisch werden zu lassen, bedienen sich Cartiff und Miller der Kunstkopf-Stereophonie, die „eine unglaublich lebensnahe 3-D-Wiedergabe der Geräusche ermöglicht“. Das Hörspiel am Ohr des Betrachter ergänzt den Film auf der Minileinwand. Ein Unfall, ein Hospital, eine Frau, die von einem undurchsichtigen Fremden bedroht wird. Dann ein brennendes Haus, aus dem zuletzt Stimmen dringen. Realitätsfragmente stehen in Film und Ton nebeneinander und berühren sich gelegentlich. Die Ebenen vermischen sich, wenn der Zuhörer aus Gesprächsfetzen über den Kopfhörer vernimmt, dass eine Frau angesichts des brennenden Hauses in der Filmsequenz panisch das Kino verlässt.

RICHARD RABENSAAT

Bis 1. 4., Mo.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. + So. 11–18 Uhr, Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50/51, Tiergarten