Senator in geheimer Mission

Nirgendwo schlurfen so viele Menschen in Trainingsanzügen durch die Straßen wie in Berlin, meinte Finanzsenator Sarrazin in der taz. Warum aber nicht in München? Sechs Thesen und eine Antwort

von UWE RADA

Die Abwurfthese

Eines Abends, es wird wohl vor dem Spiegel gewesen sein, stellte sich wieder mal die Frage: Was ziehen wir bloß an? Das ist der Ausgangspunkt einer kleinen Geschichte der Schriftstellerin Sibylle Berg („Sex“ und „Sex II“), die dann eine unerwartete Wendung nahm: „Anziehen muss man doch irgendwas, aber modern soll es schon sein, und dann kam Gott: Guten Abend, ich bin Gott und so weiter, und warf den Trainingsanzug über Deutschland ab.“

Ist so der Trainingsanzug nach Berlin gekommen? Ist das der Grund, warum in Berlin mehr Menschen in Jogginghosen durch die Straßen schlurfen als im Rest der zivilisierten Welt? Nun ist Sibylle Berg Wahlschweizerin und von daher sicher etwas voreingenommen. Und dann ist da noch das Problem der Ballistik. Hätte Gott den Trainingsanzug über der Schweiz abgeworfen, wäre er sicher am Matterhorn hängen geblieben. Aber auch über Deutschland ist eine Flugbahn nach Berlin nicht unbedingt zwingend. Warum zum Beispiel landete der Trainingsanzug nicht in München? Fazit der Abwurfthese: eher unwahrscheinlich.

Die Neuköllnthese

Warum ist ausgerechnet Berlin die Hauptstadt der Schlendriane im Streifendress? Oder, genauer gefragt, Neukölln? Dafür zumindest gäbe es eine Erklärung. Schließlich liegt Neukölln an der Hasenheide, und in der Hasenheide steht noch immer das Denkmal von Turnvater Jahn. Womit wir bei einer der heftigsten Debatten des 19. Jahrhunderts wären. Wie heute ging es beim damaligen „Trikotstreit“ um den richtigen Dresscode. Während Turnreformer wie Johann Adolf Ludwig Werner das Trikot als revolutionäre Erneuerung in der Geschichte der Sportbekleidung feierten, fand Turnvater Jahn nur drastische Worte. Er nannte seine Gegner „Nackedei-Gymnastiker“. Der Trainingsanzug made in Neukölln als Garant für Zucht und Ordnung, der Finanzsenator dagegen als sportlicher Nackedei? Fazit: kaum vorstellbar.

Die Westberlinthese

Irgendwann, das muss so in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts gewesen sein, verlieren sich die Zusammenhänge von körperlicher Ertüchtigung und den dazugehörenden Bekleidungsgegenständen. Diese kulturhistorische Zäsur geht einher mit dem Auftauchen der ersten Autowäscher in den Westsektoren, vornehmlich samstagnachmittags, kurz vor der Sportschau. Es sind Hinterbliebene, die ihre Bäuche im Schaufenster des Westens in Trikotseide geworfen haben. Wer nicht gegangen ist, lässt sich gehen. Die Accessoires sind: Trainingsjacke, Unterhemd, Jogginghose, Tennissocken, Badelatschen. Was aber, wenn diese Epoche im Nachhinein stilbildend war? Der Kulturkorrespondent des Tagesspiegels, Harald Martenstein, schrieb während der vergangenen Berlinale: „Neben mir saß ein Mann, barocker Typ, Trainingsanzug, Pferdeschwanz, geile Uhr, kratzte sich im unteren Lendenbereich und trank Bier – richtig, whow, es war Daniel, Daniel Deubelbeiss, der Medienberater von Babs. Der Mann, über den Boris gesagt hat: ‚Wahrscheinlich hat sie nichts mit ihm. Aber sie steht unter seinem Einfluss.‘ “ Fazit der Westberlinthese: Wenn ja, dann nachgerade tragisch.

Ghettothese

Hat Thilo Sarrazin schon einmal über einen Zusammenhang vom Turnschuh Joschka Fischers bis zur Niketown am Tauentzien nachgedacht? Fischers Turnschuh zählt bekanntlich zum Kulturgut der alten Bundesrepublik und wurde inzwischen vom Deutschen Historischen Museum angekauft. Und zwar vom – man wagt es gar nicht, so was laut zu sagen – designierten CDU-Landesvorsitzenden Christoph Stölzl. So gesehen kommt die Turnbekleidung nicht vom lieben Gott oder dem Turnvater Jahn, sondern aus Frankfurt am Main nach Berlin. Aus Mainhattan sozusagen. Oder, ohne Umwege, gleich aus Manhattan. Coole Trainingsjacken gehören ja zum Dresscode der modewussten Ghettojugend. Und manch ein Stück dürfte sogar teurer sein als ein Senatorenhemd aus dem KaDeWe. Fazit der Ghettothese: Sehr wahrscheinlich, doch ist das dem Senator, 57, bekannt?

Die Asienthese

Oder kommt die Trainingsjacke aus dem Osten nach Berlin? Gibt es eine direkte Entwicklungslinie von der legeren Freizeitbekleidung in Brechts „Kuhle Wampe“ bis zur Ballonseide in Marzahn und Köpenick? Oder ist alles noch schlimmer? Ist der Trainingsanzug womöglich als nicht endemische, allochthone Gattung aus Rumänen, Bulgarien oder Albanien eingeschleppt worden, jenen balkanischen Ländern also, in denen man im Trainingsanzug sogar noch am Regierungstisch sitzt? Will Sarrazin nicht wahrhaben, dass das Rote Rathaus am Alexanderplatz liegt und damit fast in Asien? Fazit der Asienthese: plumpe Verschwörtungstheorie

Die Fußballthese

Man stelle sich, schreibt Thomas Brussig, in seinem neuen Buch „Leben bis Männer“, folgendes vor: „Man sitzt in der Kneipe, an der Theke. Vorzugsweise auf dem Dorf. Und neben einem nimmt ein älterer Herr in einem Trainingsanzug Platz. Und jetzt beginnt er zu erzählen: ‚Eigentlich ist Fußball ja wegen der Evolution. Wir haben ja vor Jahrmillionen Jahren auf den Bäumen gehockt, in Assamoahs Heimat, haben die Früchte abgefressen, und als der Baum leer gefressen war, mussten wir bis zum nächsten.‘ “

Es ist ein alter Trainerhase, den Brussig hier zu Wort kommen lässt, eine Art Jürgen Röber für Rentner. Hauptsache, der Trainingsanzug sitzt. Nun mag man einwenden, mit der Ablösung Röbers durch Interimstrainer Falko Götz (der zwar aus dem Osten kommt, aber vor 89 in die Bundesrepublik machte, wohlgemerkt nicht nach Westberlin) habe auch der Maßanzug am Spielfeldrand Einzug gehalten. Aber Falko Götz’ Anzug ist eben auch nur Interim. Schließlich kommt demnächst Huub Stevens nach Berlin? Fazit der Fußballthese: Das sieht ganz nach Abstieg aus, was, Herr Sarrazin?

Die Antwort

Noch residiert die Adidas-Salomon AG in Herzogenaurach. Thilo Sarrazin dagegen stammt aus Gera. Doch das macht nichts. Erst vor kurzem hat man den Berliner Finanzsenator im Adidas-Betriebsrestaurant „Stripes“ im Fränkischen gesehen, und zwar in Begleitung von Wirtschaftssenator Gregor Gysi. Sollten die beiden da etwa, in Trainingshosen und Trainingsjacke, in geheimer Mission unterwegs gewesen sein? Immerhin gehört die Adidas-Salomon AG mit 5,4 Milliarden Euro Umsatz und 13.000 Mitarbeitern zum weltweit zweitgrößten Sportartikelhersteller der Welt. Ein Schuft, der Böses dabei denkt.

Und doch, es war ein offenes Geheimnis: Im taz-Interview sagte Sarrazin: „Die Botschaften, die ich für wichtig halte, versuche ich zu vermitteln.“ Und dazu gehört eben auch der gigantische Nachholfbedarf an Trainingsmode. Würde nur jeder zweite Berliner nicht mehr mit einer alten Trainingshose durch die Straßen der Hauptstadt schlurfen, sondern mit dem Adidas-Modell „Performance“, wäre beiden geholfen, dem Sportartikelhersteller und dem Finanzsenator. Und warum sollte am Ende von Sarrazins Mission nicht auch das Rote Rathaus drei Streifen bekommen?