Wahrhaftiger Schnipselverweigerer

Hans-Dieter Grabe hat über 60 Dokumentarfilme gedreht und sich nie von der Sensation der Bilder überrumpeln lassen. Nun geht er in Pension. Zum Abschied zeigt das Zweite ausgewählte Filme („Der genaue Blick“, Mi, 0.55 Uhr und Do, 0.00 Uhr)

von SONJA NIEMANN

Würde man jemanden auf der Straße fragen: „Was ist ein Dokumentarfilm?“ – so würde er vermutlich antworten: Das ist so was wie die Filme von Guido Knopp. Vergangenheit in Schnipseln, nachgestellte Spielfilmszenen mit flotten Schnitten und Musik, die dramatische Akzente setzen soll. Knopp ist der Historienfilmer des ZDF. Er macht Dokumentarfilme, die 5 Millionen Leute sehen wollen.

Das ZDF hat aber auch Hans-Dieter Grabe. Er macht seit 40 Jahren andere Dokumentarfilme. Grabe hat nie geschnipselt, er benutzt keine Musik, er lässt andere reden. Und schon gar nicht versucht er irgendetwas nachzustellen. Das wäre Lüge. Für ihn zeigt der Dokumentarfilm die Wahrheit. Und die steckt in Einzelschicksalen. Statt spektakulärer Kriegsbilder filmt er die Opfer. Die Wahrheit über die Atombombe ist beispielsweise der Junge aus Nagasaki, der den Angriff der Amerikaner 1945 überlebte – mit einem Rücken, der so verbrannte, dass er aussah wie eine große Feuerblase. Vierzig Jahre später wird dieser Junge, nun ein Mann, in Grabes Film „Hiroshima, Nagasaki – Atombombenopfer sagen aus“ von seinem Schicksal erzählen. Er spricht und blickt in die Kamera. Grabe hört zu, schneidet nicht und legt keine Musik drunter. Grabe will wahrhaftig sein. Das ist seine Mission.

Über sechzig Filme hat Grabe, der heute 65 wird, für das ZDF gedreht. Alle seine Dokus sind Besuche bei Menschen, die ihre Geschichten erzählen, und meistens sind es keine schönen Geschichten. Die Opfer des Vietnamkrieges, der Mann, der im KZ war, die krebskranke ZDF-Kollegin, die Mutter eines schwer behinderten Kindes. „Ich nehme den Zuschauer an die Hand und lasse ihn die Menschen kennen lernen“, so ist sein Prinzip. Er ist der Purist unter den Filmern, einer der wenigen. Aber sicher der letzte, den sich das ZDF leistet, um genau solche Filme zu machen. Schließlich klingt das Ganze nicht sehr quotenträchtig in den Zeiten von Doku-Soaps und Dokutainment.

Teilweise ähneln Grabes Filme psychotherapeutischen Sitzungen, in denen der Gefilmte so lange seine persönliche Geschichte erzählt, bis Erinnerungen zu schmerzlich werden und er plötzlich in Tränen ausbricht. Noch nie hat Hans-Dieter Grabe diese Szenen aus seinen Filmen rausgeschnitten. „Es sind wichtige Szenen, denn ich zeige ja, wie es dazu kommt“, sagt Grabe. Schließlich gehe es darum, Menschen kennen zu lernen, und zwar authentisch, so nah wie möglich. Voyeurismus dagegen, sagt Grabe, sei es, wenn Tränen zu einem bloßen Effekt verkommen, ohne Geschichte, als bloßer Effekt. „Dieses verfluchte Schielen auf die Sensation“, sagt Grabe und hebt ein bisschen seine Stimme, „diese verfluchte Entwertung der Bilder, losgelöst von ihrer Geschichte.“ Entwertung heißt: weinende Menschen, ohne dass man weiß, was überhaupt passiert ist. Flugzeuge, die immer wieder aus verschiedenen Perspektiven in die Twin Towers fliegen. Grauenhafte Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, als bloßer Bilderteppich für den darüber gelegten Autorentext. „Eine Entwertung des Schreckens. Stattdessen: ein rein optisches Erlebnis.“

Hans-Dieter Grabe hat auch ein paar Filme über glückliche, sorgenfreie Menschen gemacht. Es waren, nach Meinung der Kritiker, nicht seine besten. Sein Thema sind die Opfer. Seine Filme sprengen oft genug das 45-Minuten-Format und sind seit den 80er-Jahren, wo sie noch im Laufe eines normalen Abendprogramms liefen, mehr und mehr ins extraspäte Nachtprogramm gerutscht oder zu Spartensendern wie 3sat oder Phoenix. Die Primetime haben schon längst andere Formate übernommen. Über 400.000 Zuschauer freut er sich. Wahrscheinlich noch mehr als über die Filmpreise, mit denen er überhäuft worden ist – allein den Grimme-Preis gewann er dreimal.

Er, der letzte Autorenfilmer des ZDF, geht nun in Pension. „Das ist ein sehr großer Verlust“, bedauert Rudolf Blank, ehemaliger Leiter der Redaktion Gesellschaftspolitik und damit lange Jahre Grabes Vorgesetzter. „Er ist ein Solitär in der Art, wie er arbeitet“, findet Bodo Witzke, Redakteur beim ZDF, unter dessen Federführung eine 90-minütige Gesprächsdokumentation über Hans-Dieter Grabe entstand, die am Donnerstag die Grabe-Filmnacht einleitet. Was bleibt dem ZDF am Ende, wenn einer wie Grabe keine Filme mehr macht? 37 Grad, Terra-X, Guido Knopp und spektakuläre Bilder der Zeitgeschichte? Die wirklichen Opfer wird vermutlich so schnell keiner mehr befragen.

Auf 3sat laufen noch bis 10. März ausgewählte Grabe-Filme