Elite ist kein Zufall

Das letzte Buch von Pierre Bourdieu erweist sich als eine instruktive Sekundärliteratur zur Pisa-Studie: Warum der Begriff „demokratische Elite“ Gerede ist, solange die deutsche Schule Bildungsnachteile von Kindern aufgreift – und verstärkt

von LENNART LABERENZ

Als sich das Kursbuch im März des Jahres 2000 wortreich um die „neuen Eliten“ kümmerte, durfte auch Heinz Bude einen Text beisteuern. Der Hamburger Soziologe und Erfinder der „Generation Berlin“ machte dabei eine neuerliche Entdeckung: die demokratische Elite. Man könne, so Bude, „durch Talent, Engagement und Initiative“ fast in beliebige gesellschaftliche Höhen aufsteigen. Von Metaphern des Zeitgeistes wie Auslese, Konkurrenz und Leistung mäanderte seine klingelnde Rede hin zu einer Elite, zu der ein irgendwie demokratischen Zugang offen stehe. Westerwellisch gesprochen: Wer viel leistet, hat auch viel Recht auf Zugehörigkeit zur Elite.

Budes Gedanke findet dieser Tage ein breites Echo – von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) bis zu manchem Zeitungsverlag in der Berliner Kochstraße. Wer zum jüngsten Werk des kürzlich verstorbenen Pierre Bourdieu greift, mag erkennen, wie viel Naivität in dem Gedanken steckt, es gebe einen transparenten und gleichberechtigten Zugang in die elitären Sphären der Gesellschaft.

Bourdieu enthüllt dieses Gerede als Ideologie. Er zeigt auf, wo auch vermeintlich offene Gesellschaften strukturelle Barrieren entwickeln oder traditionelle übernehmen. Auswahl bedeutet danach immer auch ein Bestätigen habitueller Voraussetzungen anhand bildungsbürgerlicher Setzungen.

Eliten werden zwar nicht mehr geboren. Dennoch werden sie durch Geburt in einem Kontext verankert, der sie für spätere Funktionen prädestiniert. Schule und Hochschule zu betrachten bedeutete für Bourdieu also zugleich, gesellschaftssteuernde Mechanismen zu analysieren. Nichts hat die Notwendigkeit dazu klarer gezeigt als die Resultate der Pisa-Studie für Deutschland. Die dummen 15-Jährigen beweisen dem Publikum, dass sich der bildungsbürgerliche Anspruch Deutschlands („Nation der Dichter und Denker“) nicht mehr mit der Realität deckt – aufgrund veralteter Bildungsformen und -systeme. Über alle politischen Lager hinweg und quer durch die Bevölkerung ist Begabung aber nach wie vor die Grundlage einer unausgesprochenen Theorie von Schule. Bildungsforscher weigern sich, obwohl sie es besser wissen müssten, hierzulande schon deshalb die dreigliedrige Schule zu hinterfragen, weil es eben Gymnasiasten, Realschüler und Hauptschüler gebe. Qua Natur.

Zufriedene Verkäuferin

Für Bourdieu ist Begabung hingegen Ideologie. Das Verständnis von Begabung als einer naturgegebenen Grundlage des Schul- und Gesellschaftssystems dient dazu, eine herrschende Klasse zu reproduzieren – und ihren Herrschaftsanspruch gleich mit. Sie biete der Elite nicht nur die Chance, sich in ihrem Dasein zu rechtfertigen, „sie trägt auch dazu bei, den Angehörigen der benachteiligten Klassen das Schicksal, das ihnen die Gesellschaft beschieden hat, als unentrinnbar erscheinen zu lassen“. Die deutsche Verkäuferin ist’s eben zufrieden, wenn auch ihre Tochter wieder nur eine Hauptschulkarriere absolviert.

Das aus preußischer Zeit stammende dreigliedrige Schulsystem wies einst Aristokraten, Bürger und breite Volksmasse in ihre gesellschaftlich getrennten Funktionen ein. Heute bilden Kinder aus Familien, in denen ein Elternteil eine Hochschulreife aufweisen kann, mehr als die Hälfte der Studierenden. Nur 20 Prozent aber sind Kinder von Hauptschülern.

Spaltende Schule

Schule bereitet so der gesellschaftlichen Segregation den Boden – indem sie auf das klassen- bzw. milieuspezifisch angeeignete kulturelle Kapital zurückgreift. Schule dient für Bourdieu „der Perpetuierung der kulturellen Privilegien“. Oder anders, mit Pisa, gesagt: Die deutsche Schule verstärkt herkunftsbedingte Bildungsnachteile mehr als alle anderen Schulen im OECD-Raum.

In der „konservativen Schule“ erläutert Bourdieu, wie das Bildungssystem von Grund auf diejenigen benachteiligt, die aus ihrem sozialem Hintergrund nicht zu den kulturell Privilegierten gehören. Er beklagt zu Recht das Ausklammern der Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten vor den institutionellen Funktionen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren gehörte es zumindest zum wissenschaftlichen Interesse, herauszufinden, inwiefern Benachteiligungen bei den familiengebundenen Übertragungsweisen von so genannter zweckfreier Bildung wie Sprache, kulturellem Bewusstsein und Ethos durch Veränderungen im institutionellen Umfeld kompensiert werden können.

Heute ist das anders. Das gesellschaftliche Verständnis ist neoliberalisiert. Gleichzeitig werden vorgegebene Begabungsunterschiede angenommen. Wenn aber das unmittelbare Leistungskriterium gegenüber den aufgestellten (und auf hohes kulturelles Kapital bezogenen) Wissensstandards blind für Sozialisationsprozesse geworden ist, erreicht die Bildungssystematik eine einfache Wirkungsweise: Scheinbar neutral geht die Schule von nicht deklarierten bildungsbürgerlichen Werten aus – fungiert aber als wichtige Segregationsmechanik für die Einteilung in gesellschaftliche Schichtungen. Indem etwa MigrantInnenkinder sich an den gleichen deutsch-bildungsbürgerlichen Wissensstandards messen lassen müssen, werden ihnen Zugänge systematisch verwehrt. Gleichzeitig wird konstatiert, das liege halt an Begabungsunterschieden.

Schon der von Edelgard Bulmahn gerne verwendete Begriff der „Chancengerechtigkeit“ zeigt die Abkehr von tiefer gehenden bildungspolitischen Ideen – weil sie vermeidet, einen Anspruch auf „Gleichheit“ zu postulieren. Der Leistungsbegriff, der mitschwingt, wenn von eben dieser formalen Gerechtigkeit gesprochen wird, verrät die Blindheit gegenüber einer milieuspezifischer Weitergabe von kulturellen Privilegien. Ungerechte gesellschaftliche Verteilung von kulturellem Kapital wird eben nicht durch normiert-egalitäre Leistungsabfrage ausgeglichen.

Pierre Bourdieu: „Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Kultur“. VSA, Hamburg 2001, 207 Seiten, 18,90 €