„Nachteile im Osten bleiben“

Wirtschaftsforscher Karl Brenke sieht dauerhafte Standortnachteile für Ostdeutschland. Abwanderung trägt dazu bei. Hilfe kann strukturell wenig ändern

Interview NICK REIMER

taz: Herr Brenke, im vergangenen Jahr gingen 70.000 Menschen aus den neuen Ländern in den Westen. Was bedeutet diese Abwanderung für die ostdeutsche Wirtschaft?

Karl Brenke: 70.000 Menschen sind 0,5 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung. Wenn die gehen, schrumpft auch die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands um 0,5 Prozent – etwa wegen des Kaufkraftverlustes. Anders ausgedrückt: Die Abwanderung senkt die ohnehin verhaltenen Chancen einer deutsch-deutschen Angleichung des Lebensstandards.

Was wiederum Beweggrund ist, Ostdeutschland zu verlassen. Es heißt immer, es gehen die Guten, Hochqualifizierten, die Mobilen. Stimmt das?

Es gibt kaum qualifizierte Zahlen. Gesichert ist, dass sehr viel Jugendliche gehen. Zwar bilden die ostdeutschen Betriebe prozentual deutlich mehr aus als die westdeutschen. Es gibt aber im Osten viel weniger Betriebe, die ausbilden könnten. Exemplarisch belegbar ist auch, dass gut ausgebildete, für den Arbeitsmarkt attraktive Kräfte sich dort ansiedeln, wo sie sich erstens gut entfalten können und zweitens ihre Kompetenz entsprechend honoriert wird.

Was heißt das für ostdeutsche Unternehmen?

Nach unserer jüngsten Umfrage in der ostdeutschen Industrie beklagen Firmen häufiger als früher, dass das Angebot an Fachkräften knapper wird. Bemerkenswert ist, dass signifikant häufiger jene Betriebe klagen, die vergleichsweise geringe Löhne zahlen.

Welche Folgen hat der Geburtenknick Anfang der Neunzigerjahre, der 2006 den Arbeitsmarkt erreicht?

Der ostdeutschen Gesellschaft steht eine radikale Veränderung bevor. Ostdeutschland wird in viel stärkerem Maße als Westdeutschland altern. Nach 2010 wird es nur noch halb so viele Jugendliche in Ostdeutschland geben wie zu Beginn des Jahrzehnts – und damit entsprechend weniger für die betriebliche Ausbildung. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Anfang der 90er-Jahre schickten die Treuhandbetriebe im Zuge der Umstrukturierung ihre älteren Mitarbeiter in den Ruhestand und entließen die jüngeren. Die verbliebene Belegschaft im damals mittleren Alter erreicht jetzt den Ruhestand. Das Potenzial an verfügbaren Fachkräften schrumpft also stark. Das wird bei manch einem Betrieb zum Problem.

Wie kann man das in den Griff bekommen?

Wir müssen jetzt schon versuchen, Jugendliche stärker in ostdeutsche Betriebe zu bekommen. Notfalls muss das der Staat stützen – etwa mit stärkeren Anreizen, um Arbeitnehmern Teil- oder Altersruhestand zu ermöglichen. Auch die Unternehmer stehen in der Pflicht.

Bundeskanzler Schröder hat den Osten zur Chefsache gemacht. Welche Unterschiede sehen Sie in seiner Politik zu der seines Vorgängers?

Sehr viel anders ist die Politik nicht geworden. Schröder hat zum erheblichen Teil die Instrumente übernommen, die sein Vorgänger installiert hat – etwa die Mechanismen der Investitions- oder Forschungsförderung. Viel anders konnte die Politik gar nicht werden. Die entscheidenden Weichen wurden in den Jahren 1990 bis 1992 gestellt. Heute ist nur noch Feinabstimmung möglich.

Was waren die Weichen?

Erstens: die Währungsunion. Über Nacht verloren die Betriebe den Schutz, den der Wechselkurs garantierte. Das war politisch unumgänglich, wirtschaftlich aber fatal. Stellen Sie sich vor, was mit einem Autohersteller passieren würde, der heute aufgrund eines wegfallenden Wechselkurses seine Autos nicht mehr für 20.000 Euro, sondern für 40.000 Euro oder noch mehr verkaufen müsste. Zweitens: Die Politik hat viel zu hohe Erwartungen geweckt. Natürlich wollten die Leute das Versprechen, schnell nach westlichem Standard leben zu können, auch schnell in der Lohntüte wiederfinden. Es gab tariflich vereinbarte Lohnsteigerungen, die von der Produktivitätssteigerung her gar nicht möglich waren.

Immerhin kann Schröder den Solidarpakt II als Erfolg vorweisen.

Arbeiten des DIW zeigen: Bei Teilen der Infrastruktur – etwa dem Straßennetz – ist die Lücke zwischen Ost und West noch gravierend. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht fordern wir daher, jetzt eher mehr Geld als abgemacht auszugeben. Das hätte den angenehmen Nebeneffekt, dass die Bauwirtschaft Impulse erfährt. Und wegen der Verbesserung der Standortbedingungen wären weniger Subventionen nötig.

Jetzt das Doppelte und alles wird gut?

Die Beseitigung infrastruktureller Mängel ist eine notwendige Voraussetzung, keine hinreichende. Der Osten wird immer Standortnachteile haben.

Wieso denn das?

Ostdeutschland ist wesentlich dünner besiedelt als der Westen. Eine hohe Bevölkerungsdichte bringt aber Agglomerationsvorteile mit sich – ein dichteres Netz an Vorleistungen, bessere Verkehrsanbindungen, meist höhere Kaufkraft oder ein breiteres Arbeitsmarktpotenzial. Schleswig-Holstein ist mit 176 Einwohnern je Quadratkilometer das am dünnsten besiedelte westdeutsche Bundesland. Das sind aber immer noch 26 Einwohner mehr, als durchschnittlich in Ostdeutschland wohnen.

Bleibt also nur auswandern?

Es hat in der Wirtschaftsgeschichte schon immer Wanderungsprozesse gegeben. In den 70er-Jahren etwa sind aus Norddeutschland überzählige Fachkräfte ins prosperierende Bayern oder Baden-Württemberg gezogen. Klar ist aber: Mit jedem, der geht, sinkt die Chance, eine eigenständige Entwicklung hinzukriegen.